Jamal öffnet sich

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India hatte Emmas Nachricht immer wieder durchgelesen und sich gefragt, was sie tun sollte. Ein Teil von ihr war neugierig, was Jamal zu sagen hatte, doch der andere Teil wollte es einfach ignorieren und sich weiter in ihre Arbeit vertiefen. Sie hasste es, sich in komplizierte Situationen zu verwickeln, besonders wenn es um Gefühle ging. Und bei Jamal – da waren die Dinge eindeutig kompliziert.

Es dauerte nicht lange, bis sie schließlich beschloss, die Sache nicht hinauszuzögern. Wenn Jamal wirklich mit ihr reden wollte, dann sollte das eben passieren. Sie wollte die Spannung zwischen ihnen nicht noch länger bestehen lassen.

Am nächsten Tag, als sie wieder in der Bibliothek war, spürte sie eine gewisse Nervosität. Sie wusste nicht, ob Jamal auftauchen würde oder ob sie ihm noch einmal zufällig begegnen würde, aber irgendwie erwartete sie es. Und tatsächlich – kurz bevor sie die Bibliothek verlassen wollte, trat er durch die Tür.

Er sah sie sofort und ging mit langsamen, aber entschlossenen Schritten auf sie zu. India fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Jamal sah ruhig aus, aber etwas in seinem Blick verriet, dass auch er nicht ganz gelassen war.

„India", begann er, als er vor ihr stand. „Hast du einen Moment?"

Sie nickte nur und zeigte auf die freien Stühle an einem kleinen Tisch in der Ecke. Sie setzte sich und er folgte ihr. Es dauerte eine Weile, bis er anfing zu sprechen. Die Stille zwischen ihnen war nicht unangenehm, aber sie war aufgeladen – beide schienen zu wissen, dass dies ein wichtiges Gespräch werden würde.

„Ich wollte mich für das letzte Mal entschuldigen", sagte Jamal schließlich und sah sie direkt an. „Ich weiß, dass ich dir auf der Party irgendwie das Gefühl gegeben habe, dass ich... anders bin. Aber das bin ich nicht."

India schürzte die Lippen und überlegte, wie sie darauf antworten sollte. „Es ist nicht so, dass ich denke, du bist falsch. Es ist nur... du bist in einer Welt, die ich nicht verstehe. Eine Welt, die so weit weg von meiner ist."

Jamal nickte langsam, als hätte er das erwartet. „Das verstehe ich. Und du hast auch recht – meine Welt ist anders. Aber das bedeutet nicht, dass ich mich darin wohlfühle. Viele Leute denken, dass ich es genieße, ständig im Mittelpunkt zu stehen. Aber um ehrlich zu sein, ist es manchmal ziemlich erdrückend."

India sah ihn an und spürte, dass er es ernst meinte. Seine Worte klangen nicht wie eine Ausrede oder ein Versuch, Mitleid zu erregen. Es war echt. „Es muss schwer sein, ständig beobachtet zu werden", sagte sie schließlich.

„Es ist nicht nur das", fuhr Jamal fort, und sie konnte den Hauch von Frustration in seiner Stimme hören. „Der Druck, ständig perfekt zu sein, nichts falsch zu machen – es ist anstrengend. Die Leute erwarten von mir, dass ich nicht nur auf dem Spielfeld der Beste bin, sondern auch in jedem anderen Bereich meines Lebens. Aber ich bin auch nur ein Mensch."

India spürte, wie sich etwas in ihr regte. Sie konnte sich das nicht wirklich vorstellen – ständig unter der Lupe zu stehen, immer perfekt funktionieren zu müssen. Sie hatte ihre eigenen Probleme und Herausforderungen, aber so etwas? Das war etwas, das sie nie erleben musste.

„Ich schätze, ich habe das nie wirklich bedacht", gab India zu. „Für mich warst du einfach... der Fußballer. Derjenige, der im Rampenlicht steht und den Ruhm genießt."

Jamal lächelte leicht, aber es war ein Lächeln ohne Freude. „Ja, das ist es, was die meisten Leute sehen. Aber das bin ich nicht wirklich."

India lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihn für einen Moment. „Also, wer bist du dann wirklich, Jamal?"

Es war eine ehrliche Frage, und Jamal zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Ich bin jemand, der immer noch versucht herauszufinden, wie er in dieser Welt zurechtkommt. Jemand, der sich in einer Rolle wiedergefunden hat, die er nie ganz gewollt hat. Klar, ich liebe den Fußball, das Spiel, das Adrenalin. Aber alles andere drumherum? Das ist nicht das, was mich ausmacht."

India spürte eine tiefe Aufrichtigkeit in seinen Worten. Es war, als würde er zum ersten Mal jemandem wirklich offenbaren, wie es in ihm aussah. Sie konnte sehen, wie der Druck und die Erwartungen ihn belasteten, auch wenn er es gut verbarg. Es war das erste Mal, dass sie ihn nicht als den berühmten Fußballer sah, sondern einfach nur als einen jungen Mann, der versuchte, seinen Weg zu finden.

„Ich denke, wir alle versuchen irgendwie herauszufinden, wer wir wirklich sind", sagte India leise und sah auf ihre Hände. „Aber es ist schwer, wenn man von allen Seiten beeinflusst wird."

Jamal nickte zustimmend. „Genau. Und ich glaube, das ist es, was mich zu dir hingezogen hat." India hob überrascht den Blick. „Du bist nicht so wie die anderen. Du siehst mich nicht nur als den Typen, der Tore schießt und Interviews gibt. Du siehst mehr. Und das ist etwas, das ich nicht oft erlebe."

India war für einen Moment sprachlos. Sie hatte nicht erwartet, dass er so direkt sein würde, und sie wusste nicht genau, was sie darauf antworten sollte. Aber etwas in ihr wehrte sich gegen die Vorstellung, dass sie für ihn eine Art Flucht aus seiner Realität war.

„Ich weiß nicht, ob ich das sein will", sagte sie schließlich ehrlich. „Ich kann nicht der Grund sein, warum du dich von deinem Leben distanzierst."

„Das ist nicht das, was ich meine", sagte Jamal sanft, als er sich leicht nach vorne beugte. „Ich will nicht vor meinem Leben weglaufen. Ich will nur einen Teil davon finden, der echt ist. Und ich glaube, das habe ich in dir gefunden."

India spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Jamals Worte klangen ehrlich, aber sie wusste nicht, ob sie bereit war, ihm zu glauben – oder sich auf das einzulassen, was das bedeuten könnte. Es war zu früh, zu kompliziert.

„Ich weiß nicht", sagte sie leise und sah zur Seite. „Es ist alles so... schnell."

Jamal schien das zu verstehen. Er lehnte sich zurück und gab ihr Raum. „Ich will nichts überstürzen, India. Aber ich wollte, dass du das weißt."

Sie nickte langsam. „Danke, dass du so ehrlich bist."

Eine Weile saßen sie in Stille da, beide in Gedanken versunken. Es war kein unangenehmes Schweigen, sondern eines, das Raum zum Nachdenken ließ. India wusste, dass sie Jamal nicht einfach in eine Schublade stecken konnte. Er war vielschichtiger, komplexer, als sie es zunächst angenommen hatte. Aber war sie bereit, das Risiko einzugehen, jemanden wie ihn in ihr Leben zu lassen?

„Vielleicht sollten wir einfach sehen, wohin das führt", sagte sie schließlich, ohne ihn anzusehen.

„Vielleicht sollten wir das", stimmte er zu, und in seiner Stimme lag ein Hauch von Erleichterung.

India spürte, dass dies der Anfang von etwas war – aber sie wusste noch nicht genau, was. Und vielleicht war das auch in Ordnung.

Unbekannte WegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt