Gespräche über die Distanz

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Nach ihrem ersten Videoanruf spürte India, dass eine Tür geöffnet worden war, die sie lange verschlossen gehalten hatte. Das Gespräch mit Jamal war nicht so verlaufen, wie sie es erwartet hatte. Es war nicht emotional überladen oder von unerfüllten Sehnsüchten geprägt. Stattdessen hatten sie beide in einer ruhigen, reflektierten Art gesprochen, fast so, als hätten sie sich erst vor kurzem kennengelernt. Und vielleicht war das auch gut so.

Sie hatten ihre Leben seit der Trennung in unterschiedliche Richtungen weitergeführt, und doch gab es da noch immer diese Verbindung zwischen ihnen – etwas, das nicht einfach verschwunden war. India wusste, dass sie es nicht überstürzen durfte. Sie war nicht bereit, wieder in eine Beziehung mit all den Erwartungen und dem Druck zu stürzen. Aber sie war neugierig. Neugierig, was sich zwischen ihnen entwickeln könnte, wenn sie sich Zeit ließen.

Die Tage nach dem Anruf gingen in einer Mischung aus Arbeit und Gedanken an Jamal vorbei. India konzentrierte sich auf ihr nächstes Buchprojekt, das die Verlagswelt bereits mit Vorfreude erwartete. Sie besuchte weitere Lesungen, plante Auftritte und genoss es, immer mehr Teil der Literaturszene zu werden. Doch abends, wenn sie alleine in ihrer Wohnung war, dachte sie oft an Madrid und an die Gespräche, die sie und Jamal geführt hatten.

Ein paar Wochen später schickte Jamal ihr eine Nachricht:

Jamal:
„Ich denke immer wieder an unser Gespräch. Es war schön, wieder mit dir zu reden. Ich hoffe, wir können das bald wiederholen. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt anders miteinander sprechen können – offener, ohne all die alten Probleme, die uns früher im Weg standen."

India las die Nachricht und spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Er hatte recht. Sie hatten sich verändert, und vielleicht war genau das der Schlüssel, um herauszufinden, was noch zwischen ihnen war. Sie tippte eine Antwort zurück:

India:
„Ich sehe das genauso. Es ist gut, dass wir beide die Zeit hatten, unser eigenes Leben zu ordnen. Vielleicht ist das genau das, was wir gebraucht haben. Lass uns bald wieder reden."

Ein paar Tage später vereinbarten sie einen weiteren Videoanruf. Dieses Mal war India weniger nervös. Sie wusste, dass sie keine Erwartungen an das Gespräch haben musste – es ging einfach darum, in Kontakt zu bleiben und zu sehen, wohin es führte.

Als sie sich erneut vor ihrem Laptop setzte und Jamals Gesicht auf dem Bildschirm erschien, fühlte sich alles vertrauter an. Sie lachten über alte Erinnerungen, sprachen über ihre aktuellen Projekte und darüber, was sie in den letzten Monaten gelernt hatten. Jamal erzählte von einem bevorstehenden Spiel in der Champions League, das in Europa für Aufsehen sorgen würde, während India über die Herausforderungen sprach, die das Schreiben ihres nächsten Buches mit sich brachte.

„Ich habe ein paar Interviews über dein Buch gesehen," sagte Jamal irgendwann. „Es scheint, als würdest du immer mehr Aufmerksamkeit bekommen."

India lächelte leicht. „Ja, es fühlt sich manchmal surreal an. Ich hätte nie gedacht, dass ich hier ankommen würde. Aber ich mag es."

„Du hast es dir verdient," sagte Jamal, und in seiner Stimme lag ehrliche Anerkennung. „Du hast immer gewusst, was du willst. Ich habe das immer an dir bewundert."

India spürte eine leise Wärme bei seinen Worten. Es tat gut zu hören, dass Jamal ihre Entwicklung nicht nur akzeptierte, sondern stolz auf sie war.

„Und du?" fragte sie. „Fühlst du dich in Madrid angekommen?"

Jamal seufzte leicht. „Es war ein harter Übergang, aber ja, ich glaube schon. Die Erwartungen sind hoch, aber ich habe mich daran gewöhnt. Es ist eine andere Welt, aber es fühlt sich gut an."

India nickte. „Ich bin froh, dass es dir gut geht. Es war nie leicht, sich neu zu orientieren."

Jamal schwieg für einen Moment, bevor er leise sagte: „Manchmal frage ich mich, ob wir hätten einen anderen Weg finden können. Aber dann erinnere ich mich daran, dass wir beide die Zeit gebraucht haben, um uns zu entwickeln."

India nickte langsam. „Ich denke auch oft darüber nach. Aber ich glaube, wir mussten getrennt wachsen, um herauszufinden, wer wir wirklich sind."

Es war ein ehrlicher Moment zwischen ihnen, ein Moment der Erkenntnis, dass sie beide in der Zeit, die sie getrennt verbracht hatten, gereift waren. Früher hätten sie vielleicht versucht, sofort Lösungen zu finden oder ihre Gefühle voreilig zu klären. Doch jetzt spürten sie beide, dass es keinen Grund zur Eile gab.

Die nächsten Wochen waren geprägt von gelegentlichen Nachrichten und weiteren Videoanrufen. India und Jamal ließen sich Zeit, ihre Gespräche wurden tiefer, aber sie überstürzten nichts. Sie sprachen über ihre Vergangenheit, aber auch über die Zukunft – nicht im Sinne von Plänen oder Verpflichtungen, sondern darüber, was sie für sich selbst wollten.

Eines Abends, als sie wieder miteinander sprachen, erzählte Jamal von einem Besuch in Deutschland, den er bald plante. „Ich habe ein paar Tage frei, bevor das Training wieder richtig losgeht. Vielleicht könnte ich dich sehen, wenn du Zeit hast?"

India zögerte einen Moment. Sie hatte nicht erwartet, dass Jamal so bald nach Deutschland kommen würde, und sie war sich nicht sicher, ob sie schon bereit war, ihn persönlich zu sehen. Es war eine Sache, über den Bildschirm miteinander zu reden, aber eine andere, sich in der Realität gegenüberzustehen – mit all den Emotionen, die das mit sich bringen könnte.

„Das könnte schön sein," sagte sie schließlich vorsichtig. „Aber wir sollten uns Zeit lassen. Ich möchte nicht, dass wir uns überstürzt in irgendetwas hineinbegeben."

Jamal nickte verständnisvoll. „Ich verstehe das. Wir haben uns beide verändert, und ich will nichts überstürzen. Vielleicht ist es besser, wenn wir einfach locker bleiben und sehen, wie es sich entwickelt."

India spürte Erleichterung bei seinen Worten. Jamal drängte sie nicht, und das war genau das, was sie brauchte. Sie wollte die Dinge auf ihre Weise angehen, ohne den Druck, sofort wieder in die Vergangenheit zurückzufallen.

Als Jamal schließlich nach Deutschland kam, vereinbarten sie, sich für einen Kaffee in einem neutralen, ruhigen Café in der Stadt zu treffen. Es war ein Treffen, das beiden zeigte, wie viel sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte. Sie redeten, lachten und genossen einfach die Gegenwart des anderen, ohne das Bedürfnis, sofort alte Wunden wieder aufreißen zu müssen.

India merkte, dass sie immer noch etwas für Jamal empfand – aber es war anders. Es war reifer, bewusster. Sie wusste, dass es nicht einfach sein würde, die Distanz zwischen ihren Leben zu überwinden, aber sie war bereit, es langsam anzugehen, Schritt für Schritt.

Als sie sich am Ende des Tages verabschiedeten, umarmte Jamal sie leicht und sagte: „Ich bin froh, dass wir das gemacht haben."

India lächelte und erwiderte: „Ich auch. Es war gut, dich zu sehen."

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