Indias Welt

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Der Himmel über der Stadt war grau, und eine kühle Brise wehte durch die Straßen, als India sich auf den Weg zur Universität machte. Es war einer dieser Tage, an denen der Herbst bereits spürbar in der Luft lag und das bunte Laub unter ihren Füßen knirschte. Sie zog ihren Mantel enger um sich und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Die letzten Tage hatten sie mehr beschäftigt, als sie zugeben wollte – vor allem ihre Begegnungen mit Jamal.

India war nie jemand gewesen, der viel Wert auf die Meinung anderer legte. Sie hatte ihren eigenen Weg gewählt, unabhängig von dem, was um sie herum passierte. Ihr Studium, ihre Interessen – all das war tief in ihrer Persönlichkeit verwurzelt. Sie wollte nicht Teil der oberflächlichen Welt sein, die sie oft in anderen beobachtete. Es war nicht so, dass sie sich über andere erhob, sie fühlte sich nur oft fehl am Platz in dieser hektischen, auf Anerkennung fixierten Gesellschaft.

Ihre Eltern hatten sie dazu erzogen, für ihre Ziele zu kämpfen und hart zu arbeiten. Ihre Mutter war eine Lehrerin gewesen, die ihr von klein auf beigebracht hatte, wie wichtig Bildung und Unabhängigkeit waren. Ihr Vater, ein Ingenieur, hatte sie immer ermutigt, sich von nichts und niemandem beirren zu lassen. Diese Werte hatten India geprägt, und sie wollte nie etwas anderes sein als authentisch. Sie hatte keine Lust auf Spielchen, keine Geduld für Oberflächlichkeiten.

Vielleicht war das der Grund, warum sie so misstrauisch gegenüber Jamal war. Er schien in einer Welt zu leben, in der Oberflächlichkeiten den Ton angaben. Ruhm, Geld, Status – das waren Dinge, die India nie interessierten. Und doch konnte sie nicht leugnen, dass Jamal sie auf eine Art und Weise faszinierte, die sie nicht ganz verstand.

Als sie die Uni betrat, fühlte sie sich sofort ein wenig beruhigter. Der Campus war ihre Zuflucht, ein Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Hier konnte sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren, ohne von den äußeren Ablenkungen der Welt gestört zu werden. Sie hatte einen langen Tag vor sich, gefüllt mit Vorlesungen und Bibliotheksarbeit. Genau so, wie sie es mochte.

India war eine zielstrebige Person. Sie wollte eines Tages in der Literaturwissenschaft arbeiten, vielleicht sogar selbst Bücher schreiben oder unterrichten. Ihre Leidenschaft für Bücher war tief verwurzelt, und sie liebte es, sich in die Welten der Geschichten zu verlieren, die sie las. Für sie gab es nichts Schöneres, als die Sprache und den Geist der Autoren zu verstehen und zu analysieren.

Aber seit sie Jamal kennengelernt hatte, war etwas anders. Ihre Gedanken schweiften öfter ab, als sie es gewohnt war. Sie hatte sich darauf konzentriert, ihr Leben in festen Bahnen zu halten, und Jamal – oder besser gesagt, die Idee von ihm – war eine Ablenkung. India wusste nicht, ob sie bereit war, jemanden wie ihn in ihre Welt zu lassen, jemanden, der vielleicht alles durcheinanderbringen konnte.

Die Vorlesungen vergingen schnell, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Jamal zurück. Emma hatte recht, als sie sagte, dass er ein ganz normaler Mensch war, der einfach nur versuchte, sich in einer komplizierten Welt zurechtzufinden. Aber India konnte die Tatsache nicht ignorieren, dass seine Welt so grundlegend anders war als ihre eigene.

Als der Tag sich dem Ende neigte, entschied India, noch einmal zur Bibliothek zu gehen, um an ihrer Arbeit weiterzuschreiben. Der vertraute Geruch von Büchern und die ruhige Atmosphäre beruhigten sie immer, und genau das brauchte sie jetzt. Sie suchte sich ihren gewohnten Platz am Fenster und breitete ihre Notizen vor sich aus.

Doch es dauerte nicht lange, bis ihre Gedanken wieder zu Jamal zurückkehrten. Sie hatte versucht, ihn aus ihrem Kopf zu verdrängen, aber es funktionierte einfach nicht. Vielleicht lag es daran, dass er nicht dem Bild entsprach, das sie sich von ihm gemacht hatte. Er hatte sie überrascht – in der Bibliothek, bei den Gesprächen, und sogar bei der Party, trotz ihrer Missverständnisse. Jamal schien wirklich anders zu sein, als sie erwartet hatte.

India seufzte leise und legte ihren Stift zur Seite. Vielleicht war sie zu hart zu ihm gewesen. Vielleicht hatte sie ihm zu schnell einen Stempel aufgedrückt, nur weil er in einer Welt lebte, die sie nicht verstand. Aber konnte sie sich wirklich in jemandem täuschen? Und vor allem, wollte sie das Risiko eingehen, ihm zu vertrauen?

Sie spürte, wie ein leises Unbehagen in ihr aufstieg. Vertrauen war etwas, das India nur schwer verschenkte. Sie hatte gelernt, sich auf sich selbst zu verlassen, weil sie wusste, dass sie niemanden enttäuschen konnte, wenn sie niemanden an sich heranließ. In ihrer Vergangenheit gab es nicht viele Menschen, die diese Barriere durchbrochen hatten. Und obwohl Jamal es nicht direkt versucht hatte, schien er bereits näher an sie herangekommen zu sein, als sie sich wohlfühlte.

Vielleicht, dachte India, war das der eigentliche Grund, warum sie so zurückhaltend war. Es ging nicht nur darum, dass Jamal berühmt war oder in einer anderen Welt lebte. Es ging darum, dass sie nicht sicher war, ob sie sich emotional öffnen konnte – und ob sie das überhaupt wollte.

Als sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrieren wollte, vibrierte ihr Handy auf dem Tisch. Sie nahm es in die Hand und sah, dass sie eine Nachricht von Emma bekommen hatte.

Emma: „Hey, du wirst es nicht glauben, aber ich habe gerade Jamal getroffen. Er hat nach dir gefragt."

India spürte, wie ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie tippte eine Antwort.

India: „Wirklich? Was hat er gesagt?"

Emma: „Nicht viel, er hat nur gefragt, wie es dir geht. Ich glaube, er will sich mit dir aussprechen."

India starrte auf die Nachricht, unsicher, was sie davon halten sollte. Wollte sie das? War sie bereit, sich wieder mit ihm zu treffen und vielleicht herauszufinden, was wirklich zwischen ihnen war? Oder sollte sie auf Abstand bleiben und ihn nicht näher an sich heranlassen?

Sie steckte das Handy wieder weg und schloss für einen Moment die Augen. Es war schwer, Entscheidungen zu treffen, wenn Gefühle im Spiel waren. Doch eines wusste sie: Egal, was passierte, sie würde sich nicht von jemandem verbiegen lassen. Nicht von Jamal, und nicht von irgendjemand anderem.

Unbekannte WegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt