Es war ein frischer Herbstmorgen, als die Hiobsbotschaft eintraf. Der Wind heulte wie so oft durch die Flure und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Obwohl es ein Feiertag war und mir die Müdigkeit nach einer weiteren Prüfungsphase in den Knochen steckte, stieg ich aus dem Bett. Sofort kroch mir die Kälte die Glieder empor. Ich vergaß wie immer, dass der alte Herr vom Heizen nicht viel hielt. Sechzehn Grad seien völlig ausreichend und zum Wärmen hatte man ja schließlich eine Decke.
Wenigstens machte die Kälte einen wach, sodass ich pünktlich zum Frühstück am großen Esstisch saß. Kieran gegenüber von mir, Großvater thronte wie immer zwischen uns am Tischende.
Während wir stillschweigend aßen, blätterte er naserümpfend durch die Zeitung.
„Herr Delorean." Ein gesetzte, bemüht monotone Stimme erklang. „Entschuldigen Sie bitte die Störung."
Der Arzt stand im Türrahmen und verneigte sich kurz, als ob Großvater ein König sei.
„Kann es nicht bis nach dem Frühstück warten?", fragte Großvater säuerlich. „Es schickt sich nicht das Essen zu unterbrechen."
„Ich fürchte, dass es sich um eine sehr kurzfristig zu klärende Angelegenheit handelt", erwiderte der Arzt.
„Geht es um Vater?", zischte Kieran.
Entsetzt blickten die beiden Männer ihn an.
„Kieran", entfuhr es Großvater harsch.
Dieser zuckte mit den Schultern. „Denkst du ernsthaft, ich hätte es Mari nicht irgendwann erzählt ... oder gezeigt."
Großvaters peitschender Blick schnellte in meine Richtung.
Ertappt legte ich den Löffel neben mein Müsli.
„Ich habe nichts weitergesagt", meldete ich artig.
Auch wenn er nicht glücklich zu sein schien, wandte er sich wieder an den Arzt. Nicht ohne Kieran einen enttäuschten Seitenblick zuzuwerfen.
Dessen Hand krampfte sich augenblicklich um das Brotmesser, als wollte er ihn erstechen.
„Also, was gibt es Dringendes?"
„Ich muss Ihnen mitteilen, dass unser Patient, Herr Williams, wohl in den frühen Morgenstunden verstorben ist."
Sofort blickte ich zu Kieran, der ungerührt auf den Überbringer starrte. Doch ich bemerkte die feine Anspannung seines Kiefers.
„Wohl?" Großvater lachte.
Er lachte.
„Sollten Sie nicht sicher sagen können, ob er tot ist."
Der Arzt lächelte.
Wieso lächelten und lachten sie, als ob gerade etwas Heiteres passiert wäre?
„Er ist gesichert nicht mehr am Leben. Allerdings kann ich natürlich auf die Schnelle nicht den genauen Todespunktzeitpunkt ausmachen. Nach meiner kurzen Visite eben, würde ich allerdings auf nicht mehr als ein paar Stunden tippen, die seitdem vergangen sind."
Großvater schniefte, was ihm sofort ein Husten entlockte. „Nicht einmal das Frühstück kann dieser Flegel abwarten."
„Ein Mensch ist gerade gestorben", erwiderte ich fassungslos, als ob es da irgendetwas zu erklären gäbe.
„Und, Kind?", kam es unnachgiebig zurück.
„Ich finde die Kommentare ein wenig respektlos", setzte ich an, obwohl mir mulmig dabei war, Großvater zu widersprechen.
„Das Ende eines unnötigen Leids", kam es von meinem Gegenüber. Kieran schien sich aus seiner Schockstarre gelöst zu haben.
„Unnötig?", erboste sich Großvater. „Dieser Mann hat das Leben deiner Mutter, meiner Tochter, zerstört. Ich denke, die Strafe war nicht einmal ansatzweise gerecht."
Ich stutzte kurz, bevor Kieran mit den Fingern knackte.
„Ich denke, er hat genug gelitten." Sein Blick starrte ins Leere.
Am liebsten wollte ich ihn tröstend in den Arm nehmen, aber der Tisch und die Person, die an dessen Ende thronte, hielten mich zurück.
„Darf ich dich daran erinnern, wer ihn hierbehalten wollte?" Großvaters Stimme donnerte durch den Saal. „Woher der Sinneswandel?"
Als Kieran stumm blieb, streifte Großvaters Blick mich und er entließ ein verächtliches Schnauben. „Ah, so ist das."
Energisch erhob er sich. „Nun denn, dann werden wir uns einmal um die Angelegenheit kümmern."
Schweigend sah ich zu, wie er auf den Arzt zuschritt.
Kurz bevor sie den Raum verließen, betrachtete Großvater mich abschätzig. „Dein vermeintlich großes Herz, Marisol, ist eine Schwäche, die du lieber ablegen solltest. Es wird dich im Leben nicht weit bringen."
Damit verschwanden die beiden.
Sofort sprang ich auf und lief zu Kieran.
Ungelenk erhob er sich. Gerade noch rechtzeitig, bevor ich meine Arme um ihn schloss.
„Das tut mir so leid, Kieran", flüsterte ich.
Er tätschelte maschinenhaft meinen Rücken. „Schon gut. Großvater hat Recht, der Mann verdient kein Mitleid."
Ich hob meinen Kopf. „Er war dein Vater. Du hast die letzten Jahre immer wieder an seinem Bett gesessen. Auch wenn du es nicht wahrhaben möchtest, aber ihr wart vielleicht doch verbundener, als dir bewusst ist. Und es tut mir leid, dass es so endet. Ohne Aussprache, ohne alles." Ich presste meine Lippen aufeinander. „Außerdem ist es immer schlimm, wenn jemand stirbt."
„Bei dem alten Mann wird es nicht schlimm sein." Ein schräges Lächeln legte sich auf Kierans Lippen.
Es gefiel mir nicht.
„Mach das nicht." Ich löste mich von ihm.
Fragend sah er mich an.
„Lachen wie sie. Du brauchst kein Theater zu spielen." Ich griff seine Hände. „Nicht vor mir. Es ist okay, wenn es dich trifft."
Kieran tat einen tiefen Atemzug. „Ich glaube, es wird Zeit, das Ganze endlich gehen zu lassen. Alles endlich gehen zu lassen."
„Was meinst du?"
„Mein Vater ist tot. Meine Mutter auch. Was hält mich noch hier?"
Ich musste schlucken und ein nervöses Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.
Augenblicklich zogen sich Kierans Lippen zu einem sanften Lächeln empor und er strich mir liebevoll über die Wange. „Keine Sorge, Mari, das meinte ich nicht. Ich gehe nicht ohne dich. Versprochen. Allerdings kann ich es kaum erwarten, hier wegzukommen."
Seine Finger streiften kurz meine Lippen und ich seufzte. „Ich auch."
Kierans Hand zog sich zurück und er rieb sich die Stirn. „Vielleicht sollte ich endlich mal aussortieren und den ganzen alten Krempel nach letzten Erinnerungsstücken durchsuchen, dich mitnehmen will, bevor wir aufbrechen."
„Welchen Krempel?"
„Auf dem Dachboden liegen noch ein paar alte Sachen meiner Mutter. Sie hatte so eine hübsche goldene Kette mit einem blauen Stein, wie ihre Augen. Und Fotos. Die wollte ich eigentlich an mich nehmen. Damals konnte ich die Sachen nicht durchschauen, aber jetzt ... ich habe es ewig aufgeschoben."
„Ich kann das für dich machen", erklärte ich schnell.
„Alles gut, das brauchst du nicht."
„Doch, doch", erwiderte ich eifrig. „Wenn du jetzt Zeit brauchst, um dich von deinem Vater zu verabschieden und die Hinterlassenschaften deiner Mutter noch zu schmerzhaft für dich sind, übernehme ich das gerne."
Erneut fanden Kierans Finger den Weg zu meiner Wange. „Ach Mari, vielleicht darfst du wirklich nicht immer so ein großes Herz haben."
Betrübt legte ich meinen Kopf in seine Hand. „So groß ist es gar nicht. Aber ..." Meine Stimme wurde fest. „Ich lasse mir von Großvater nicht alles nehmen." Eine Antwort auf seinen Vorwurf damals im Garten. Er hatte Recht gehabt, dieser Mann hatte mir vieles genommen. Mich um die Chance auf ein liebevolles Heim gebracht. Mir meine Zuversicht, meine Herkunft und sogar die Sprache meiner Mutter genommen. Aber das würde er mir nicht nehmen. Und den Rest ... den würde ich mir irgendwann zurückholen.
„Danke", kam es leise, aber ehrlich zurück und zauberte mir ein Lächeln auf mein Gesicht.
DU LIEST GERADE
Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...