Kaum hatte sich die Schockstarre gelöst, preschte ich los. So schnell mich meine Füße trugen, rannte ich durch den Flur. Wie von fern erklangen Kierans Schritte.
Unten. Er war bereits im unteren Stockwerk.
„Kieran", rief ich außer Atem, als ich die Treppe hinunterstürmte. Einholen würde ich ihn ohnehin nicht mehr, dabei musste ich unbedingt verhindern, dass die beiden allein aufeinandertrafen.
Am Treppenabsatz angekommen, blickte ich mich panisch um. Wo war er hingelaufen? In den Salon?
Nein, es gab nur einen Ort, der infrage kam. Kurzum stürmte ich zu dem vermeintlichen Einsturztrakt. Ich war mir sicher, dass Kieran diese Richtung eingeschlagen haben musste.
Und da erblickte ich die offene Tür.
Eilig schoss ich hindurch und kam schnaufend in der geöffneten Tür des ehemaligen Krankenzimmers zum Stehen.
Gerade noch rechtzeitig. Großvater stand am mittlerweile leeren Krankenbett. Ihm gegenüber hielt Kieran ... einen alten Gehstock empor. Ich kannte diesen. Es war eine der Hinterlassenschaften von Generationen, die früher in diesem Haus gewohnt hatten. In einer bronzenen Halterung im Flur befanden sich eine Reihe dieser alten Holzstöcke. Mittlerweile bediente Großvater sich ab und zu an diesen für Spaziergänge. Früher hatte er sie für anderes genutzt ... Und in diesem Moment schien Kieran es ihm gleichtun zu wollen. Die Rollen hatten gewechselt.
Verstört betrachtete ich die Szene für den Bruchteil einer Sekunde. Sollte ich es aneinander rasseln lassen, wie Kieran es vor einiger Zeit gefordert hatte.
Nein, schrie eine Stimme in meinem Kopf, er durfte nicht zu dem werden, worunter wir beide all die Jahre gelitten hatten. Außerdem würde es nichts ändern. Im Gegenteil ...
„Nein", schrie ich und raste auf Kieran zu.
Verzweifelt griff ich nach dem Arm, der den Stock hielt und in diesem Moment runterrasen wollte.
„Tu das nicht, Kieran, bitte." Mit aller Kraft klammerte ich mich an seinen Oberarm und versuchte ihn zurückzuhalten.
„Was soll der Scheiß?" Kieran funkelte mich wütend an.
Dennoch ließ seine Anspannung einen Hauch nach und ich hoffte, er würde den Stock sinken lassen.
„Das könnte ich dich auch fragen?" Atemlos ließ ich keinen Deut lockerer. „Das ist doch keine Lösung. Wolltest du ihn totschlagen?"
Kieran verengte die Augen zu bedrohlichen Schlitzen. „Eigentlich nur ein bisschen ... züchtigen. Aber vielleicht keine schlechte Idee."
Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. „Und dann? Landest du im Gefängnis oder wie hast du dir das vorgestellt?"
„Du solltest auf deine Schwester hören", kam es mit einem Hauch von Belustigung zurück.
Sofort versteifte Kierans Griff sich und der Stock hob sich wieder bedrohlich. „Findest du das lustig, alter Mann?"
„Lustig finde ich das Ganz und Gar nicht." Großvater schaute verärgert drein. „Albern und nichtsnutzig, aber das bin ich ja mittlerweile von dir gewohnt." Ein Seitenblick huschte zu dem Bett. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm."
„Es reicht." Ich ging dazwischen und stellte mich vor Kieran. Bemüht um etwas Distanz, wollte ich ihn wegschieben. Allerdings glich Kieran aktuell einem Berg und sträubte sich mit jeder Faser seines Körpers, auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu weichen.
„Lass dich von ihm nicht provozieren", flüsterte ich.
Doch Kieran schien mich kaum wahrzunehmen.
„Warum?", entfuhr es ihm in Großvaters Richtung. „Warum dieses ganze Theater?"
„Du wirst schon spezifischer werden müssen, mein Junge."
„Ich bin nicht dein Junge." Kierans Schläfen zuckten. „Du hast mir meinen Vater genommen und meine Mutter in den Selbstmord getrieben." In dem Moment wurden seine Augen starr. „Oder hast du sie vielleicht selbst umgebracht?"
Großvater grunzte ärgerlich. „Mach dich nicht lächerlich. Das hat deine Mutter ganz allein hinbekommen. Sie war schon immer schwächlich und überfordert mit allem. Zu sensibel für diese Welt. Wie ihre Mutter schon. Schwache Menschen brechen manchmal. Dafür kann ich nichts und sonst niemand."
„Wie kannst du es wagen, so über sie zu reden?", hallte Kierans Stimme ungehalten durch das fast leere Zimmer.
„Es wird Zeit, sich langsam der Wahrheit zu stellen", erwiderte Großvater scharf. „Sie hat sich selbst dazu entschieden, sich auf diese Liaison mit ihrem dümmlichen Klavierlehrer einzulassen, schwanger zu werden und weder die Schule abzuschließen noch sonst etwas in ihrem Leben in den Griff zu bekommen. Auf der Tasche gelegen hat sie mir. Mit ihrem Gesaufe, ihren Tabletten und fürchterlichen Wehleidigkeit. Genau wie du."
Großvater schnaubte. „Wenn ich es mir Recht überlege, bist du vielleicht weniger wie dein nichtsnutziger Erzeuger, sondern eher wie dein trauriges Häufchen Elend von Mutter. Dabei hatte sie alles. Wohlstand, Gesundheit, Talent. Und trotz all dieser Gaben hat sie noch nicht einmal die simpelste aller Aufgaben hinbekommen. Am Leben bleiben. Was für eine Verschwendung."
Ich spürte, wie Kierans Muskeln die Kraft verließ und der Stab Stück für Stück hinabsank. Er hatte einen wunden Punkt getroffen.
Mich packte die Wut.
Zornig drehte ich mich um. „Wie kannst du so etwas sagen? Das ist dein Enkel. Und sie war deine Tochter. Du hast sie doch dahingetrieben. Mit deiner grausamen Art und deinen Strafen. Du hast sie eingesperrt ... in diesen verdammten Keller, wo es kalt und dunkel ist. Wie sollte man daran bitte nicht zerbrechen?"
Er rümpfte die Nase. „Ach ja, der schlimme Keller. Sie und im Übrigen auch du solltet froh sein, dass ihr so milde davongekommen seid. Als ich noch jung war, hat mein Vater meine Mutter und Schwester windelweich geprügelt. Im Vergleich zu früher, war das, was euch widerfahren ist, noch gnädig."
Ich schluckte. „Das ist doch keine Entschuldigung."
„Natürlich ist es das nicht", tönte Großvater. „Ich brauche mich für Nichts zu entschuldigen. Ich war, nein, ich bin immer noch äußerst gnädig zu euch Kindern. Ein sinnvolles, angemessenes Strafmaß. Kein trunkenes, unkontrolliertes Herumschlagen."
Fassungslos starrte ich ihn an. Er glaubte das wirklich. Er dachte, dass das, was er uns angetan hatte, in Ordnung war. Angemessen. Sinnvoll.
Mir kam die Galle hoch.
„Was hast du mit ihm gemacht?" Kierans Worte, distanziert und fern, echoten durch den Raum.
Großvater richtete seinen Hemdkragen. „Dein ehrenwerter Erzeuger stand kurz nach der Beerdigung deiner Mutter auf meiner Matte. Er wollte dein Sorgerecht und Geld."
„Lüg nicht", raunte Kieran.
Großvater grinste. Es war das erste Mal, das ich diesen Ausdruck an ihm sah. Es war grotesk.
„Nur dein Sorgerecht. Wie unverschämt, nachdem ich mich all die Jahre in seiner Abwesenheit um euch gekümmert habe."
„Du hast doch selbst dafür gesorgt, dass er nicht da sein konnte", schnaubte ich.
Großvaters Nasenflügel bebten. „Scheint, als hätte er in seinem Briefchen die ganz großen Fässer aufgemacht."
Kurz fürchtete ich, er würde sich nicht die Blöße geben, eine weitere Lüge einzugestehen.
Aber es schien ihm egal zu sein.
„Es war eine Notwendigkeit", erklärte er, als ob er über eine kleine Angelegenheit, wie das Müllrausbringen oder Geschirrspülen, reden würde. „Er hat sich an meine naive, leicht zu beeindruckende Tochter rangeschmissen. In den Klavierstunden, die ich bezahlt habe." Angewidert rutschte sein Blick flüchtig zum Bett. „Und dann besudelt er sie noch, indem er sie schwängert. Natürlich musste er weg. Was hatte er schon zu bieten. Weder Geld noch Anstand."
Ich biss mir auf die Wange. Nach den Essays, die ich in Aubreys Truhe gefunden hatte, konnte sie kaum so naiv gewesen sein, wie er sie wahrnahm. Abgeschottet und allein bestimmt. Und gebrochen. Und vielleicht auch beeindruckt von dem fremden, jungen Mann, der neu auf der Matte gestanden hatte. Aber wer konnte es ihr verdenken. Wenn ich hier allein und eingesperrt leben würde, würde ich mich wahrscheinlich auch an jeden Menschen hängen, der meinen Weg kreuzte und halbwegs freundlich war.
„Wie hast du ihn ins Gefängnis gebracht?", fragte Kieran bemüht um Contenance,
Großvater stierte ihn an. „Das war wohl kaum eine Herausforderung. Dieser Gauner hatte ein paar Jugendsünden auf dem Buckel. Und manchmal trifft sich das ein oder andere, ein paar Beweise tauchen auf und dann steht plötzlich eine Anzeige wegen bewaffneten Raubüberfalls im Raum. Mag sein, dass er dessen nicht schuldig war." Großvaters Miene verfinsterte sich. „Aber es war ausgleichende Gerechtigkeit für das, was er unserer Familie angetan hat."
Mir wurde schlecht. Soweit reichten seine Klauen also, dass er einen unschuldigen Mann für mehrere Jahre ins Gefängnis bringen konnte. Wie sollten Kieran und ich jemals frei von ihm werden?
„Du hast Mama erzählt, er wäre abgehauen und hätte eine neue Familie gegründet", fauchte Kieran.
„Hätte er bestimmt auch", gab Großvater zurück. „Solcher Abschaum tickt doch immer gleich. Ich habe euch einen Gefallen getan, ihn von dir und deiner Mutter fernzuhalten." Erneut zuckten seine Mundwinkel selbstsicher nach oben. „Auch wenn ich nach ihrer Beerdigung ein wenig kreativ werden musste, um ihn endgültig loszuwerden. Er hatte sich wirklich so dafür eingesetzt, dein Sorgerecht zu erhalten. Wäre es nicht so lachhaft gewesen, hätte ich diese Hartnäckigkeit vielleicht schätzen können. Ein wenig Rückgrat, das ich dieser Kakerlake gar nicht zugetraut hätte."
Mir wurde speiübel und ich sah, wie Kierans Fäuste sich ballten.
„Du hast ihn ins Wachkoma befördert?" Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Großvater straffte den Rücken. „Ich habe erledigen lassen, was erledigt werden musste. Er hat seine zweite späte Strafe erhalten, du konntest ein wenig bei deinem Vater sein, ohne dass er einen zu großen Schaden anrichten konnte. Außerdem war er hier gut versorgt."
Ich versuchte seine Worte zu begreifen, aber konnte mir nicht ansatzweise vorstellen, wie man so abartig sein konnte.
„War mein Vater überhaupt im Wachkoma?", fragte Kieran ausdruckslos und es ließ mir einen Schauer über den Rücken wandern.
„Da wirst du schon mit seinem Arzt sprechen müssen", kam es monoton zurück. „Ich habe nicht das Wie spezifiziert, sondern nur das Endresultat. Er sollte nicht mehr in der Lage sein, mir Steine in den Weg zu legen oder dir Flausen in den Kopf zu setzen." Großvater stieß ein unangenehmes Grunzen aus. „Allerdings schätze ich mal, dass ein Wachkoma keine fast tägliche Behandlung mit Sedativa bedarf."
Alles in mir erstarrte. Er hatte ihn all die Jahre betäuben lassen ...
„Du bist ein Monster", keuchte Kieran. Seine Worte brachten meine Gedanken auf den Punkt und holten sie in diese Realität. Diese grausame Realität. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie Kieran sich in diesem Moment fühlte. So oft hatte er an dem Bett seines Vaters gesessen und ihn für das Monster gehalten. Dabei war er einem echten zum Opfer gefallen und er hätte jeden Tag aus seiner Starre befreit werden können, um die Wahrheit zu sagen.
„Ich tat, was nötig war, um dich, um uns zu schützen", ertönte Großvaters verhasste Stimme. „Mag sein, dass er nach ihrer Beerdigung nicht explizit Geld gefordert hat. Aber wir wissen beide, dass er mit deinem Sorgerecht nur an eines wollte. Mein, unser Vermögen."
„Das kannst du nicht wissen", wisperte ich.
„Und du schon?", gab Großvater abschätzig zurück. „Fräulein Neunmalklug, die denkt, sie könnte sich heimlich zum Fußball rausschleichen, ohne dass ich es merke." Sein Blick durchbohrte mich und mir wurde schlecht. „O ja, denk nicht, dass ich dich nicht durchschaut habe. Ich weiß, was in diesem Haus vor sich geht. Von euren ..." Großvater blickte noch angewiderter drein als bei seinen Worten über Kierans Vater. „... gottlosen Aktivitäten. Widerlich."
Ich spürte Hitze in meine Wangen steigen und bodenlose Scham in meinem ganzen Körper aufsteigen.
Plötzlich legte sich ein Arm um mich und zog mich zu sich.
„War das nicht, dein Wunsch, dass wir uns nahestehen?", zischte Kieran.
Großvater verzog die Miene. „Mal wieder provozieren, Kieran. Ironie ist das Mittel der Schwachen."
„Du wiederholst dich, alter Sack."
„Ihr solltet wie Geschwister sein und keine Unzucht betreiben." Sein Blick wanderte wieder zu mir. „Aber es hätte mir klar sein sollen bei deinem Schlag. Euch kriegt man das Verdorbene nicht ausgetrieben."
Wie ein Messer stachen seine Worte zu. So sah er mich also. Meinen „Schlag" ... Ein Gefühl der Leere machte sich in mir breit und meine Finger wurden taub.
Da hörte ich einen Knall und ein Stöhnen.
Ich blinzelte und sah durch den nassen Schleier, wie Kieran vor Großvater stand, der sich auf den Knien im Krankenbett hielt.
„Nenn mir einen Grund, dich nicht ebenfalls in dieses Bett zu befördern und dich die letzten Tage hier leiden zu lassen", erklang Kierans Stimme unnatürlich gefasst.
Großvater lachte, wurde jedoch durch einen Hustenanfall unterbrochen. Blut tropfte aus seinem Mund auf den schneeweißen Überzug.
„Ich glaube, deine liebe Schwester", spuckte er das Wort aus, „hätte etwas dagegen."
Wütend sah ich ihn an. Wütend, weil ich ihn wirklich in diesem Bett sehen wollte, aber auch wütend, weil er Recht hatte. Ich wollte nicht, dass Kieran seinetwegen eine Straftat beging. Und so sehr ich ihn hasste, wollte ich ihn auch nicht blutend, mit gebrochenen Knochen am Boden sehen. Es fühlte sich falsch an. Wir durften nicht wie er werden und seine Fehler wiederholen.
„Das muss endlich aufhören", wisperte ich.
„Wusste ich es doch", hustete Großvater triumphierend. „So harmoniebedürftig und gehorsam. Auch wenn ich eigentlich etwas ... Passenderes für Kieran wollte, wusste ich schon im Heim damals, dass du zu demütig bist, um aufzubegehren. Ein liebes, braves Trostpflasterchen für meinen Enkel. Tja, wäre dir nur nicht dieses Sündhafte in die Wiege mit hineingelegt worden. Eigentlich bist du schuld an dieser Misere. Du hast Kieran verweichlicht und ihn in einen jammernden Nichtsnutz verwandelt. Es ist wirklich beklagenswert, was aus euch geworden ist. Kieran ein verzogener Möchtegern-Zyniker und du ein identitätsloses, ja-sagendes Nichts. Das ist ..."
Ein Tritt in seine Magengrube beendete den Wortschwall.
„Mari hat Recht", brummte Kieran und trat zurück. „Das muss endlich aufhören. Alles."
„Kieran", wisperte ich und griff nach seiner Hand, die noch immer den Stock hielt. Doch er streifte sie ab.
„Lass gut sein." Eine tiefe Erschöpfung schwang in seiner Stimme mit. „Ich kann nicht mehr."
Doch anstatt wie befürchtet noch einmal zuzutreten, drehte Kieran sich um und lief an mir vorbei. Kurz streifte sein Arm meinen. Ein kurzer Kontakt, dann verlor ich ihn. Betrübt und hilflos blickte zu dem hustenden alten Mann auf dem Boden.
„Worauf wartest du?", bellte er. „Hilf mir hoch."
Ein kleiner Teil in mir verspürte Mitleid bei dem Anblick, wie er dort unten hockte, und verlangte, dass ich ihm aufhalf oder zumindest ein Taschentuch reichen sollte.
Doch dieses Mal gab ich nicht nach. Mit fahrigen Schritten lief auch ich hinaus, darum bemüht, das fehlgeleitete Mitleid und schlechte Gewissen in mir zu unterdrücken.
Es sollte mir egal sein. Weil ich ihm egal war. Ein Trostpflaster für seinen Enkel. Ein Nichts.
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Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...