Kapitel 20

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Der kalte Wind streifte meine Wangen und brachte die Blätter zum Rascheln. Ich blieb stehen. Hoffnungslos ließ ich meinen Blick schweifen. Über das Dickicht, die Sträucher und Bäume. Natürlich fanden meine Augen nicht, wonach sie suchten.
Es war von Anfang an ein sinnloses Unterfangen gewesen, Kieran im Wald zu finden. Selbst wenn er sich hier aufhielt, war der Forst viel zu riesig, um ihn zu finden. Insbesondere dann, wenn er nicht gefunden werden wollte und der Suchtrupp aus lediglich einer Person bestand.
Leise seufzte ich. „Wo bist du nur?" Doch meine Worte verloren sich gänzlich im Wind.
Eine Antwort blieb aus.
Entmutigt begab ich mich auf den Weg heim. Sei dem Vorfall im Krankenzimmer, bei dem alles an Licht gekommen war, waren ein paar Stunden verstrichen. Natürlich brauchte Kieran Zeit, wahrscheinlich mehr als ich. Allerdings machte ich mir langsam Sorgen.
Ich hatte an seine Zimmertür geklopft, aber er war nicht da gewesen. Weder im Zimmer noch sonst wo im Haus. Verwunderlich war es nicht. Während mein eigenes Zimmer meine kleine Bastion und Zufluchtsort war, zog es Kieran stets aus dem Haus. In den Wald, zu den Feldern ... irgendwo, wo die Weite alles und auch ihn schluckte.
Es ängstigte mich. Der Gedanke, dass er das wollte. Komplett geschluckt werden und sich leise in Nichts auflösen ...
Nach einiger Zeit erblickte ich das Herrenhaus. Wie ein unnachgiebiger, steinerner Riese ragte es in der aufsteigenden Nacht empor.
Bibbernd rieb ich mir die Arme, die nur in einen dünnen Blusenstoff gehüllt waren, und beschleunigte meine Schritte. Nicht nur die Kälte sorgte für ein klammes Gefühl in meinem Bauch, auch die Dunkelheit, die sich wie ein düsterer Schleier auf alles legte.
Wenn es dunkel ist, sind böse Menschen unterwegs. Deshalb bleib lieber zuhause im Sicheren.
Auch nach all den Jahren hallten die Worte meiner Mutter wie ein Mantra durch meinen Kopf.
Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass Kieran auch den Weg nach Hause fand, wo auch immer er sich herumtrieb.
Eilig schloss ich die schwere Tür auf und trat ins Innere. Doch das Gefühl von Sicherheit und Wärme blieb aus. Wie sollte es auch anders sein? Es war bitterkalt und fast so dunkel wie draußen. Ich wusste nicht, ob Großvater da war. Und es interessierte mich auch nicht.
Yuna hatte ich bei meinem Aufbruch in den Wald gesehen, wie sie mit einer Reisetasche davontapste. Schneller als sonst. Sie konnte es nach allem wahrscheinlich kaum erwarten, hier wegzukommen. Und ich konnte es in diesem Moment auch nicht. Vielleicht sollte ich Mei fragen, ob ich bei ihr übernachten konnte.
Seufzend zückte ich mein Handy aus der Rocktasche und tippte auf den Bildschirm. Bevor ich es wieder zurücksteckte, fiel mir ein, dass es eventuell eine Person gab, die meine Abwesenheit – wenn sie denn zurückkam – interessieren könnte.
Ich: Bitte meld dich mal! Ich mache mir Sorgen. Falls was ist, ich bin die Nacht bei Mei. Du kannst aber immer anrufen. Ich liebe dich❤️
Grübelnd setzte ich meinen Weg nach oben fort. Wie sollte nach allem, was geschehen war, jemals wieder Normalität einkehren?
Auf unserem Flur angekommen, hielt ich inne.
Hoffnungsvoll klopfte ich gegen Kierans Tür.
Es blieb still.
Ich klopfte fester.
Weiterhin Stille.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Das dämmrige Licht, das von draußen reinfiel, erhellte das hölzerne Interieur. Von Kieran keine Spur.
Eigentlich sollte ich in mein Zimmer gehen und meine Sachen für die Übernachtung packen, aber etwas hielt mich hier. Vielleicht war es der vertraute Duft nach ihm. Vielleicht das gemütliche Bett, in dem wir schon so oft gemeinsam gelegen hatten. Damals und jetzt.
Kurzerhand schloss ich die Tür hinter mir und wanderte mit trägen Schritten zum Bett. Ich streifte die Schuhe ab und ließ mich ins Laken sinken. Ich war so unendlich müde. Eingekuschelt in die viel zu warme Decke und eingehüllt von Kieran, auch wenn er nicht hier bei mir war, döste ich kurze Zeit später ein.

༺❀༻

Ein Krachen riss mich aus dem Schlaf.
Mit einem Schlag war ich hellwach und blinzelte in die Dunkelheit. War der Lärm hier im Haus oder hatte ich geträumt?
Erneut schepperte es unangenehm.
Instinktiv riss ich die Decke ein Stück höher. Jemand war unten. Im Haus.
Wieder krachte es, doch dieses Mal war noch etwas anderes zu hören – ein Klirren, als würde Glas in tausend Stücke zerbersten.
Ob jemand eingebrochen war?
Ängstlich richtete ich mich auf. Wo hatte ich nur mein Handy hingelegt?
Doch der Krach hörte nicht auf.
Welcher Einbrecher würde so einen Heidenlärm veranstalten?
Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Kierans Bild mit dem alten Gehstock pflügte durch meine Gedanken.
Blitzschnell sprang ich aus dem Bett und eilte zur Tür. Ich riss diese auf und lief den Flur entlang.
Am Treppenabsatz verharrte ich. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte mit dem Licht nicht. Ein merkwürdiges Flackern tanzte über die alten Gemälde und angegilbte Tapete. Es war wie das Lichtspiel, das der alte Kamin im Winter an die Wände und Decke zauberte.
In dem Moment stieg mir ein verkohlter Geruch in die Nase.
Feuer.
Es brannte.
Blindlings stolperte ich die Treppe hinab. Erneut gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Als ob ein Regal samt Inhalt umgefallen wäre.
Ich wollte zum Salon, als ich sah, wie weit die Flammen schon gekommen waren. Wild loderten sie die Holzvertäfelung hinauf, verschlangen das morsche Brennmaterial. Der hintere Bereich, die gesamte Bibliothek musste bereits lichterloh in Flammen stehen.
Erneut ein Poltern. Jemand war noch im Salon. Den Eingang hatten die Flammen noch nicht erreicht. Noch nicht ...
Doch die Luft wurde zunehmend stickiger. Ein Husten erschütterte meinen Brustkorb. Aber jemand war noch in dem Zimmer. Eine dunkle Vorahnung beschlich mich und zwang mich in Richtung Salon.
Ich presste meinen Ärmel auf den Mund, als ob der dünne Stoff irgendetwas aufhalten würde. Meine Augen wurden feucht. Die Hitze wurde immer unerträglicher, brannte sich durch meine Haut in mein Fleisch.
Keuchend stolperte ich durch den Eingang in den Salon.
„Mari." Eine Stimme drang wie von fern zu mir.
„Kieran?", hustete ich und schaute auf.
Tatsächlich waren die Flammen noch nicht bis hierhin durchgedrungen. Doch das unheilvolle Knarzen und Knistern war deutlich zu hören, wie sich die sengende Hitze durch die Wände fraß und die Tapete zum Schmelzen brachte.
Kurz fiel mein Blick auf zwei leere Kanister. Dann auf den Mann, der hinter ihnen stand und mich entsetzt anstarrte.
Ehe ich mich versah, stand er vor mir und schüttelte mich.
„Was machst du hier? Du musst sofort raus."
Ich blinzelte ihn an. Warum war es nur so unerträglich heiß?
„Was ist ... was ist hier passiert?", brachte ich mühevoll hervor, aber beim erneuten Blick auf die Kanister erschloss es sich mir.
Entrückt starrte Kieran mich an. „Ich habe dir gesagt, dass das alles endlich aufhören muss."
Fassungslos kralle ich meine Nägel in seine nackten Arme. Ein Fehler. Kaum hatte der Blusenstoff den Eingang zu meiner Nase verlassen, erfüllte beißender Rauch diese und legte sich wie Blei auf meine Lungen.
Hustend setzte ich an: „Und dann zündest du hier alles an? Wir hätten sterben können."
„Es tut mir so leid, Mari." Ein ängstlicher Ausdruck schlich sich in Kierans Augen. „Ich wusste nicht, dass du hier bist. Wirklich. Ich dachte, du wärst bei Mei. Ich habe extra noch einmal in deinem Zimmer nachgesehen, aber du warst nicht da."
Ich schluckte. „Ich war in deinem Zimmer."
Ein Ausdruck purer Qual legte sich in Kierans Augen. „Es tut mir so leid, Mari. Ich wollte nicht ..."
„Ist jetzt auch egal." Ich griff nach oben und riss an seinen Hemdärmeln. „Wir müssen hier sofort raus."
Kieran löste sich von mir. „Du musst hier raus."
Mit einem Mal wurde es mir klar. Wir hätten sterben können.
Nein.
Er wollte hier sterben.
Er wollte mit diesem Haus in Flammen aufgehen.
Ich krallte mich fester an ihn. „O nein, du kommst mit. Ich lasse dich hier nicht zurück." Während ich mit aller Macht versuchte, an ihm zu ziehen und zu zerren, spürte ich die Tränen in den Augen.
Bestimmt umgriff Kieran meine Handgelenke und löste sie von sich. „Es ist okay."
„Es ist nicht okay. Wir müssen hier raus", wimmerte ich. Nebelschwaden schoben sich in meinen Kopf und machten es immer schwerer, klar zu denken.
„Nein", kam es mit fester Stimme zurück, auch wenn alles andere um mich herum zu flimmern begann. „Ich bleibe. Ich habe mich dazu entschieden. Ich will hierbleiben und sterben. Aber ich möchte, dass du gehst. Bitte."
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das ist keine Bitte. Das ist ... nein." Ich merkte wie mir immer schwummriger wurde.
Doch ich erkannte noch, wie Kierans Ausdruck warm und liebevoll wurde, dass es mir das Herz zerriss.
„Es ist okay", flüsterte er. „Ich bin nicht deine Aufgabe und es ist meine Entscheidung. Also geh."
„Aber du kannst nicht hierbleiben." Ein heftiges Schluchzen durchschüttelte mich.
„Aber ich will. Ich trage die Idee schon länger mit mir rum. Schon gefühlt ewig. Und ich bitte dich, das zu akzeptieren."
Nein. Ich konnte nicht. Ich konnte das nicht akzeptieren.
„Bitte, Mari." Es war ein Flehen, das mir durch Mark und Bein ging. „Ich habe mit alldem hier abgeschlossen und ich möchte, dass du rausgehst und endlich, endlich frei bist von all diesem Dreck hier."
Nein. Das war falsch.
Ich riss meine Handgelenke aus seinem Griff und sah rot. „Das ist falsch. Du hast nicht mit allem abgeschlossen." Ich schlang meine Arme um meinen Bauch und versuchte mich durch das dösige Gefühl auf meine nächsten Worte zu konzentrieren. „Ich bin schwanger."
Ich vernahm ein scharfes Atmen.
„Lüg nicht", drang sein Befehl zu mir durch.
Mit Tränen in den Augen blinzelte ich nach oben. „Tu ich nicht." Ich sah ihm fest in die Augen. „Bitte, du kannst mich damit nicht allein lassen."
„Das ist nicht lustig."
Fast schon hysterisch schrie ich: „Ich meine es auch nicht lustig. Ich brauche dich. Wir haben nie richtig verhütet, wenn du dich erinnerst." Meine Hand legte sich auf meinen Bauch. „Wir brauchen dich. Lass mich nicht allein". Mit der freien Hand griff ich nach seiner.
Deutlich leiser, deutlich gefasster flüsterte ich mit letzter Kraft: „Bitte lass mich nicht im Stich."
Ungehalten starrte Kieran mich an. Es loderte in seinen Augen. War das sein innerer Kampf oder die Flammen um uns herum?
Ich konnte es nicht mehr ausmachen. Ich fühlte mich einfach nur noch müde und schwach. Mein Kopf schmerzte und meine Beine wurden weich. In dieser unendlichen Hitze.
Wie merkwürdig ... Eigentlich war es hier doch immer kalt. Und dunkel. Wirklich merkwürdig ...
Ich spürte, wie die Welt unter mir langsam nachgab und ich tat es ihr gleich.

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