„Und wissen Sie schon, was Sie nach der Schule machen wollen, meine Liebe?" Die ältere Dame im beigen Twinset lächelte mich freundlich an.
„Nun, ganz sicher bin ich mir nicht." Nervös friemelte ich an dem hellen Stoff meines Kleides. Nur um mich im nächsten Moment selbst zu ermahnen, dass ich dies besser lassen sollte. Es schickte sich nicht. Schon gar nicht in solch feiner Gesellschaft. Der Garten unseres Hauses war gefüllt mit Besuch. Großvaters Besuch.
Kurz ließ ich meinen Blick durch die Menge an adrett gekleideten Leuten schweifen, in der Hoffnung, sie würden mir eine Inspiration oder direkt eine Antwort auf die Frage der älteren Dame geben. Doch stattdessen starrte ich auf eine beige, pastellfarben gekleidete, uniforme Masse. Wie so oft fragte ich mich, ob sie sich heimlich vorher absprachen. Ein Outfit glich dem anderen. Und auch ich in dem elfenbeinfarbenen Kleid mit blassen Röschen und kurzen Puffärmeln sah aus der Ferne wahrscheinlich ebenso wie ein Teil dieser verschworenen Gemeinschaft aus. Oder vielleicht doch eher wie ein Flamingo, der verzweifelt versuchte sich unter Pinguinen zu verstecken.
„Ich habe überlegt, Jura zu studieren oder wenn möglich Medizin", zählte ich brav die Fächer auf, die Großvater so gerne von mir hörte. Und von Kieran.
Kieran ... ihn hatte ich seit letztem Wochenende vollständig gemieden. Eigentlich sollte es nicht schwer sein in dem riesigen Haus. Doch mich beschlich das unheimliche Gefühl, dass das Haus einem immer genau die Menschen auf dem Silbertablett servierte, die man am wenigsten sehen wollte. So war es mit Kieran. So war es mit Großvater. Und manchmal mit Yuna. Glücklicherweise gab es jedoch ein Dutzend Fluchtwege und Schlupflöcher, um ihnen zu entkommen.
„Eine ausgezeichnete Entscheidung", kommentierte der Herr mit Weste und Sakko, aus dessen Tasche ein unerwartet quietschbuntes Seidentuch hervorlugte.
„Es ist wirklich schön zu sehen, dass es noch junge Leute gibt, die etwas zur Gesellschaft beitragen wollen und nicht faul herumlungern", stimmte nun auch eine weitere ältere Dame mit ein, die eine modische Kopie der Fragenstellerin war.
Diese schenkte mir ein mildes Lächeln. „Ich muss sagen, dass Sie wirklich eine ganz reizende junge Dame sind."
Für einen Moment erwärmte ihr freundlicher Ausdruck mein Herz.
„Und wie prima Sie sich integriert haben. Vom Benehmen und der Sprache her. Da kenne ich ja ganz andere ..." Pikiert schüttelte sie den Kopf und mein Herz plumpste in die Magengrube.
Reflexartig begann ich wieder am Stoff meines Kleides zu nesteln.
„O ja", stimmte nun ihr Mode-Double ein. „Diese ganzen Kriminellen, die da rüberkommen. Es ist wirklich erfrischend zu sehen, dass es auch anders geht."
Mein Mund wurde staubtrocken. Ich wollte etwas sagen, aber mir fehlten die Worte. Nein, sie waren in meinem Kopf. Aber die Angst hielt sie zurück.
„Ich glaube, das reicht mit der rassistischen Scheiße für heute", erklang es scharf.
Augenblick presste ich meine Lippen aufeinander. Allerdings waren es nicht meine Worte gewesen.
Eine Hand streifte meinen nackten Arm. Sofort erschauerte ich. Die Stimme hatte es mir ohnehin verraten, wer dort hinter mir stand. Aber auch ohne seine Worte, hätte ich die Berührung sofort zu orten können.
„Wie ... wie ... wie bitte?", ertönte es verwirrt wie ein kaputter Chatbot.
„Ich muss Ihnen Marisol leider einmal entführen", sprach Kieran überdeutlich und laut. „Sie ist einfach zu freundlich, um ungebildeten und fremdenfeindlichen Idioten den Rücken zu kehren."
„Das ist unverschämt", krächzte der ältere Herr.
Kieran funkelte ihn wütend an. „Nicht einmal halb so unverschämt wie Ihre unterirdischen Kommentare eben. Vielleicht sollten Sie Ihr Gebiss und peinliches Seidentüchlein langsam mal einpacken und zurück ins letzte Jahrhundert kehren." Kieran schien die pikierten Blicke sichtlich zu genießen und legte vergnügt nach: „Oder gleich galant abtreten und toleranteren Generationen Platz machen."
Geschockt ließ ich mich von ihm wegziehen. Doch ich schaute wahrscheinlich nicht halb so entsetzt drein wie das beige Einheitstrio.
„Bist du verrückt?", zischte ich. Hoffentlich verpfiff uns keiner der Drei bei Großvater. Mir wurde speiübel.
Kieran blinzelte zu mir hinab. „Wolltest du dir die anregende Konversation noch weitergeben?"
Ich schüttelte den Kopf, während er mich mit sich zog.
„Siehst du. Bitte, mein Herz."
Bei letzterem fühlte sich dieses scheinbar direkt angesprochen und pochte aufgeregt.
Abrupt blieb ich stehen. „Wo willst du überhaupt hin?"
Kieran verschränkte die Arme. „Ein Stück weg von Großvaters Marionettenzirkus und außer Hörweite."
Ich legte den Kopf schräg. „Warum?"
Ein fassungsloser Ausdruck erfüllte seine Augen. „Ernsthaft? Vielleicht sollten wir endlich über letztes Wochenende sprechen, als wir ..."
Nun war ich es, die ihn am Arm davonzog. Für diese Unterhaltung waren wir nicht weit genug entfernt. Nirgendwo waren wir weit genug entfernt dafür.
„Bist du verrückt?", fragte ich ein zweites Mal. „Du kannst doch nicht vor allen Leuten darüber reden, dass wir ..." Ich hielt inne. Ich konnte und mochte es nicht aussprechen. Egal wie schön es gewesen war, es war ein Fehler. Ein Fehler aus Alkohol und Gras.
„Rumgemacht haben."
Ich verpasste ihm augenblicklich einen Klaps auf den Arm. Keinen festen. Am liebsten hätte ich ihm den Mund zugehalten. Diesen wirklich attraktiven Mund. Mit den Lippen, die mich ... Nein, ich musste es wegschieben.
Ich strich mein Kleid glatt, auch wenn sich nicht mal der Hauch einer Falte abzeichnete. „Du kannst das nicht vor all den Leuten sagen." Auch wenn Großvaters höriges Volk ein gutes Stück entfernt stand, wusste man nie, wohin die Worte echoten. Und der Wind nahm hier manchmal merkwürdige Wege.
„Ich denke, ich habe zu den Leuten schon schlimmeres gesagt. Siehe und höre eben", entgegnete Kieran.
Ich legte den Kopf schräg. „Ach wirklich? Dir ist schon klar, dass wir für diese Leute Geschwister sind."
„Keine echten."
„Das ist egal."
Kieran rieb sich die Schläfen. „Für mich nicht." Mit einem Mal wandelte sich sein Blick. Er wurde ernst, fixierte mich.
Mit großen Augen sah ich ihn an, erahnte, worauf er hinauswollte. Das konnte er nicht ernst meinen.
Gerade wollte ich etwas erwidern, als eine tadelnde Stimme rief: „Kieran."
So schnell ging das also dieses Mal.
Augenblick klappte bei meinem Gegenüber der Schalter um.
Mit vor Hohn triefender Stimme entgegnete Kieran: „Sie wünschen, werter Herr?"
Ein leise Note Wut mischte sich in die ältliche Stimme. „Lass den Unsinn und nenn mich gefälligst Großvater."
Überrascht drehte ich mich um. Ich hatte noch nie erlebt, dass Großvater in Anwesenheit anderer Personen auch nur ansatzweise die Contenance verlor.
„Sie wünschen, werter Großvater?", kam es zurück. „Nicht gerade die feine Etikette, einfach eine Unterhaltung zu unterbrechen."
In dem Moment fing Großvater sich wieder. „Es ist auch nicht die feine Etikette, unseren Gästen Rassismus vorzuwerfen."
Kieran zuckte mit den Schultern. „Meintest du nicht, Ehrlichkeit ist eine Tugend?"
Ich ballte meine Fäuste. Wie ich diesen Spruch hasste. Wie oft hatte Großvater ihn mir einhämmern wollen, wenn er mich in den Keller gesperrt hatte. Ehrlichkeit ist eine Tugend.
Ich solle ehrlich sein. Wenn ich weinend versprach nie wieder zu tun, weshalb er mich einsperrte. Wenn ich beteuerte, ich hätte doch nichts Schlimmes getan. Wer lügt, spricht anderen die Würde ab, meinte Großvater. Ehrlichkeit ist eine Tugend.
„Du wagst es ...", zürnte Großvater.
„Vielleicht sollten wir uns alle wieder ein wenig beruhigen", sprach ich in schlichtender Manier. „Wir haben immerhin Gäste."
Kurz blieb es schweigsam zwischen den Männern.
Ich warf Kieran einen bittenden Blick zu.
Seine Schläfen zuckten, aber er sagte nichts. Ich wusste, dass er für mich auf weitere Provokationen verzichten würde.
Großvater lachte hämisch. „Soso, große Töne spucken, aber von einer Frau in die Schranken weisen lassen." Er schüttelte den Kopf. „Du bist genau wie dein Vater."
Bevor ein Widerwort ertönen konnte, fuhr Großvater jedoch fort: „Ich will, dass du dich hier zusammenreißt und den Gästen mit dem Respekt begegnest, den du selbst erwartest, sonst Gnade dir Gott."
Ein weiterer verhasster Spruch. Wie oft war er gefallen, bevor Großvater seine Strafen hatte walten lassen. Es war eine leere Satzhülse, denn Gnade hatte es nie gegeben.
Wie automatisch griff ich nach Kierans Arm, als Großvater sich urplötzlich wandte und davon stiefelte.
„Dieser scheiß Pisser", zischte Kieran, aber machte glücklicherweise keine Anstalten hinter ihm her zu stürmen und auf ihn loszugehen. Ich spürte jedoch die Anspannung seiner Muskeln unter meinem Griff.
„Vielleicht sollten wir eine Runde im Wald spazieren gehen", schlug ich vor. Je mehr Distanz zwischen ihnen herrschte, desto besser.
Mit finsterer Miene drehte sich Kieran um und marschierte in Richtung Forst.
Ich eilte ihm hinterher, froh noch mehr Distanz zwischen mich und diese Party zu bringen. Und dem alten Mann, der sie gab.
Es brauchte eine Weile, bis Kieran seine Schritte verlangsamte und ich spüren konnte, wie er sich beruhigte.
„Musste das sein?", fragte ich zaghaft.
„Was genau meinst du?", brummte er und schlurfte über die moosbewucherte Erde.
„Hm?", gab ich zurück. „Vielleicht alles."
Kieran hielt inne. „Die Gäste haben eine verbale Backpfeife verdient. Und der alte Sack verdient noch so viel mehr."
Ich blieb neben Kieran stehen. „Wie lange willst du diese Groll-Tour noch fahren?"
Kieran wiegte den Kopf. „So dreißig bis vierzig Jahre auf jeden Fall."
„Haha." Ich verpasste ihm einen liebevollen Stoß, hielt mich dann aber zurück. Der Körperkontakt war keine gute Idee. Vor allem nicht in dieser romantisch angehauchten Waldszenerie. Für einen Moment war ich gefangen. Gefangen von dem Duft nach feuchter Erde und blühenden Wildblumen, die in kleinen, farbenfrohen Flecken aus dem Moos hervorschimmerten. Und gefangen von den warmen Sonnenstrahlen. Das sommerliche Licht durchbrach die hohen Baumkronen und tauchte den Boden in ein zartes Schattenspiel.
Auch auf Kieran warf die Sonne ihren warmen, goldenen Schein, umspielte seine Silhouette und ließ ihn wie einen gleißenden Gott erstrahlen. Sein blondes Haar, normalerweise von einem kühlen, aschigen Ton, schien nun fast golden, als das Licht darin gefangen blieb und es zum Leuchten brachte. Ebenso wie seine hellblauen Augen, die funkelten, als seien sie der Himmel und die Sonne selbst.
Ich spürte, wie ein wohlbekanntes Kribbeln meinen Bauch eroberte. Doch ich zwängt es hinunter. Es war kein Platz für diese Gefühle.
„Solange wir unter seinem Dach wohnen, auf jeden Fall." Kieran musterte mich. Es war die Art und Weise, wie er es in der Küche getan hatte. Und auf der Party. Abseits der anderen. Bevor wir uns ...
„Was meinte er mit deinem Vater?", fragte ich schnell, bevor die Luft sich wieder auflud.
Sofort wandelte sich Kierans Blick. „Ich bin nicht wie mein Vater."
Ich verschränkte meine Arme. „Ich dachte, du hättest deinen Vater nie kennengelernt." Ein leiser Hauch Misstrauen glomm in mir auf. Ich hatte Kieran alles erzählt, alles anvertraut. Wir waren uns so ähnlich. Liebevolle Mütter, fehlende Väter. Hatte er mir etwas verschwiegen?
Er strich sich durchs Haar. „Habe ich auch nicht. Er hat meine Mutter sitzen lassen, obwohl sie schwanger war, kam finanziell nicht klar. Und er war laut Großvater eine schwache, rückratlose Schabe."
Ein grausames Lächeln zierte seine Lippen. „Du verstehst, warum ich nicht so gerne mit ihm verglichen werde."
Ich presste die Lippen aufeinander. „Tut mir leid, ich wollte dir keinen Vorwurf machen."
Kieran seufzte. „Ich weiß. Du willst nie jemanden einen Vorwurf machen."
Angriffslustig zog ich eine Augenbraue hoch. „Was soll das heißen?"
Auch wenn seine Stimme weich geklungen hatte, hallte die Kritik klar und deutlich durch jede Nische des Waldes.
„Ach Marisol ..."
Bitte nicht meinen Namen so stöhnend aussprechen, flehte ich innerlich.
„Du weißt genau, was ich meine. Warum kannst du es nicht einmal eskalieren lassen? Dann schlagen der alte Mann und ich uns eben auf einer Feier voller angesehener Gäste."
„Ernsthaft?"
„Ja, du musst nicht immer schlichten. Manchmal muss man die Dinge auch einfach aneinander rasseln lassen."
Meine Finger langten nach dem Stoff des Kleides.
„Und wenn du den Kürzeren ziehst", wisperte ich.
Kieran sah mich fragend an.
„Er kontrolliert alles. Schon immer. Und nur weil du ihm körperlich überlegen bist, heißt das nicht, dass er nicht am Ende gewinnt. Er kann uns alles kaputtmachen ... uns kaputtmachen."
Ein liebevoller Blick erfüllte seine Augen, als er einen Schritt nähertrat.
Ich hielt den Atem an, um seinen Duft nicht zu riechen.
Mit den Fingern strich er über meine Wange. „Es tut mir so leid, meine liebe Mari. Ich wünschte, ich könnte dir diese Angst endlich nehmen."
Mein Herz pochte schnell. Niemand würde mir diese Angst je nehmen können. Aber in diesem Moment war es nicht das, was mich nervös machte.
Es war die Nähe, sein herber Duft, die gleißend blauen Augen, seine markanten und doch weichen Gesichtszüge.
„Kieran", flüsterte ich. „Ich glaube ..."
Doch der Rest der Worte flog mit der aufkommenden Brise einfach davon. Es war, als ob der Wind ihn näher an mich herandrücken wollte. Ein Verräter wie unser Haus.
„Du denkst, es war ein Fehler, oder?", raunte Kieran.
„Natürlich", erwiderte ich matt. Doch es hatte wenig Bestand. Mein Widerstand löste sich auf, solange sein Daumen sanft über meine Wange strich.
„Und was ist daran so schlimm?"
„Wir können einfach nicht ...", setzte ich erneut an.
Er kam mir immer näher und ich wünschte mir in dem Moment nichts sehnlicher, dass auch der Rest dieser Distanz sich auflöste.
„Haben wir doch schon", wisperte er.
Für den Bruchteil einer Sekunde wanderte mein Blick zu dem Ursprung der Worte. Seinen perfekt geschwungenen Lippen.
„Und das war falsch."
„Alles, was wir tun, ist falsch." Und damit überbrückte er die letzten Zentimeter zwischen uns.
Alles, was wir tun, ist falsch. Und scheinbar war ich wie so oft zu schwach mich dem entgegenzustellen. Wie automatisch schlossen sich meine Augen und ich spürte, wie sich seine Lippen auf meine legten.
Und wie ich ihm entgegenkam.
Seine Arme umfingen mich und ich ihn. In dem Moment verblasste alles. Das Rauschen der Blätter, der Wind, der die Sträucher bewegte, eine Gartenparty weit entfernt und voller fremder und boshafter Menschen.
Für einen Moment verharrten wir, vertieft in diesen sanften, zärtlichen Kuss. Doch wie letztes Mal blieb es nicht dabei. Etwas Drängendes, Verlangendes mischte sich in die unschuldige Berührung. Kieran vertiefte den Kuss und ich gab nach. Seine Zunge spielte mit meiner, während seine Hände sachte emporwanderten. Und ich konnte nicht anders, als sein Verlangen zu spiegeln. Sehnsüchtig zog ich ihn an seinem Hemdkragen dichter an mich. Doch es war mehr. Eine Einladung ...
Bestimmt wanderten Kierans Hände zu meinem Ausschnitt und begannen die oberen Zierknöpfe meines Kleides zu öffnen. Als der letzte aufsprang, löste er sich von mir.
Benommen öffnete ich die Lider.
Hitze und Begehren flammten in seinen Augen auf und brannte sich in meine Haut und jede Faser meines Körpers ein. Wie konnten diese himmelblauen Meere nur so einem lodernden Höllenfeuer gleichen?
Da würden wir wahrscheinlich auch landen – blutsverwandt oder nicht. Es spielte keine Rolle.
„Kieran ...", flüsterte ich verzweifelt. Es war ein wenig souveränes Mahnen. Doch ich war unfähig noch weitere Worte zu formen, zu sehr zog mir sein sengender Blick den Boden, jegliches Fundament unter den Füßen weg.
Ich wollte wegschauen. Ich musste wegschauen, um einen klaren Kopf zu bewahren.
Doch Kierans Hand fixierte mein Kind. Es gab kein Entkommen.
„Aber die anderen", entfleuchte es mir. Ein letzter kläglicher Widerstand.
„Du bist das Einzige, was ich will", knurrte Kieran und sein Blick entblößte eine feine, kaum merkliche, neue Nuance. Es war etwas Besitzergreifendes, das ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Eigentlich sollte es mich zurückschrecken lassen. Stattdessen fühlte ich ein starkes Ziehen und Pochen in meinen unteren Regionen. Es zog mich zu ihm. Und noch schlimmer. Ich konnte, es ihm nachempfinden. Er war das Einzige, was ich wollte. Wann auch immer das passiert war ...
„Seit du damals im Bad in diesem halbseidenen Mantel vor mir gestanden hast", sprach er bemüht um Zurückhaltung und als könnte er meine Gedanken lesen.
Ich schluckte, denn ich wusste, worauf er anspielte. Es lag bereits eine Weile zurück. Ein paar Jahre sogar. Wir mussten vierzehn oder fünfzehn gewesen sein. Für mich jedoch hatte sich diese Szene im Bad außer anderen Gründen in mein Gedächtnis gegraben.
Es war ein schwüler Sommer gewesen und ich bin nach der Schule direkt unter die Dusche gestolpert. Als ich wieder ins Bad ging, nur mit einem weißen, dünnen Seidenbadenmantel bekleidet – einem Geburtstagsgeschenk von meinen Freundinnen, das nicht als „unzüchtig" in der Tonne gelandet war –, hatte Kieran am Waschbecken gestanden. Sein Oberkörper war entblößt, das blaue Hemd achtlos über den Badewannenrand geworfen. Der Wasserhahn war voll aufgedreht, aber ich hatte das Rauschen kaum wahrgenommen. Zu sehr hielt mich der Anblick seiner nackten Haut gefangen. Und erfüllte mich mit blankem Entsetzen.
Auch jetzt noch wurde mir übel bei dem Gedanken an die zahlreichen blauen und dunkelroten Flecken, die seinen Oberkörper gezeichnet hatten. Zahlreiche Blutergüsse, die mittlerweile verschwunden waren. Aber der Anblick von damals hatte sich in mein Gedächtnis geschlagen. Ängstlich war ich auf ihn zugekommen, wollte ihm helfen, ihn umarmen. Aber jede meiner Berührungen würde ihm noch mehr Schmerzen zufügen. Ich wollte ihn anflehen, dass wir endlich Hilfe holen mussten, aber er hat mir mit der Hand den Mund zugehalten. So hatten wir uns eine Weile gegenübergestanden. Während seine Tränen, die das rauschende Wasser übertönt hatte, langsam versiegt waren, waren meine immer mehr geworden.
„Das war ein schrecklicher Moment", flüsterte ich, wieder in der Gegenwart und doch fühlte es sich plötzlich mit einem Mal so real und präsent an, als ob kein einziges Jahr verstrichen wäre.
„Ich weiß", murmelte Kieran. „Aber nicht am Ende."
Ich konnte mich kaum mehr daran erinnern, wie ich das Bad verlassen hatte. Hatte Kieran mich gebeten oder hatte ich selbst gemerkt, dass es irgendwann Zeit war hinauszugehen? Ich wusste es nicht mehr.
Doch eine Erinnerung streifte meine Gedanken. Kurz bevor ich zur Tür rausgegangen war, hatte ich noch einmal innegehalten. Kieran hatte auf dem Rand der Badewanne gesessen und zu mir geblickt. Während ich immer noch, wie in Watte gepackt war, an der Tür stand, hatte er mich angestarrt. Hatte ich es damals nicht einordnen können, wurde es mir jetzt umso klarer. Es war der Blick, den er mir jetzt zuwarf. Der Blick, der schon damals dafür gesorgt hatte, dass mein Herz schneller pochte, auch wenn ich es nicht verstanden und weggeschoben hatte. Der Blick, der nun dazu führte, dass förmlich alles in mir vibrierte.
Im nächsten Moment strich Kierans Finger über meinen Hals. Wie einer unsichtbaren Linie folgend wanderte er hinab und verharrte an meinem Schlüsselbein, während sein Blick in meinem versank. Nein, er brannte sich nicht nur in meinen Körper. Er brannte sich in meine Seele.
Seine Augen ließen mich los. Schwer atmend folgte ich seinem Blick. Zu seinem Finger, der noch immer auf meinem Schlüsselbein ruhte, als ob er auf etwas wartete. Da sah ich es.
Die Knöpfe meines Kleides waren komplett geöffnet und gaben den Blick preis auf meine nackten Brüste. Mehr noch auf die dunklen Spitzen, die hart hervorragten. Augenblicklich spürte ich die Röte in meine Wangen schießen. Hatte damals noch ein dünner Hauch weißer Seide meinen Körper verhüllt, war ich nun komplett entblößt. Wobei ich nach Kierans Worten bezweifelte, dass der Bademantel damals viel mehr verdeckt hatte.
„Kieran, ich ..." Beschämt darüber, wie heftig mein Körper auf ihn ansprang, hob ich eine Hand vor meinen Mund und mit der anderen versuchte ich meine Brüste zu verdecken. Doch sie wurde augenblicklich weggezogen.
Mit großen Augen sah ich ihn an. Er umgriff mein Kinn und zog mich dicht zu sich, sodass sich unser Atem vermischte.
„Kein Verstecken, Marisol." Das tiefe Timbre seiner Stimme ließ mich erzittern. „Keine Ausflüchte." Sein Griff wurde fester. „Und kein Zurück mehr?"
Wie hypnotisiert hing ich an seinen Lippen und nickte hörig.
Seine Lippen streiften meine. Ich spürte ein Lächeln, doch war zu benebelt und erregt, um es einordnen zu können. Erst als seine Hand meinen Kopf nach oben taxierte, wurde mir klar, worauf ich mich eingelassen hatte. Kein Verstecken ...
Sein Mund wanderte meinen Hals hinab. Keine Ausflüchte ...
Dieses Mal machte er keinen Halt am Schlüsselbein. Kein Zurück mehr ...
Sein Kopf senkte sich zu meinen nackten Brüsten. Im nächsten Moment spürte ich seine Lippen an meinen Nippeln.
Ich stöhnte auf, presste jedoch im nächsten Moment die Lippen aufeinander.
Wie bei unserem Kuss fuhr seine Zunge zuerst sanft über meine Spitze, sachte leckte er an ihr und ich spürte eine wohlvertraute Erregtheit. Auch wenn es sich wunderschön anfühlte, war es immer noch durchsetzt von Scham. Und Zweifel. Was wenn uns jemand sah? Was wenn jemand ...
Mit einem Mal hörte Kieran auf zu saugen. Ich blickte hinab und sah, wie er vor mir auf die Knie sank. Erschrocken blickte ich auf sein blondes Haar.
„Kieran, wir können nicht ...", setzte ich an und presste die Beine aneinander.
Doch ich hatte keine Chance. Bestimmend schob er mein Kleid empor. Im nächsten Moment sank mein Höschen zu Boden.
Behäbig strichen seine Finger über meine Oberschenkel, bis sein Daumen meine Mitte fand und in sachten Kreisen über diese strich. Ich konnte nicht anders und spürte, wie ich feucht wurde.
In Kierans Augen blitzte der Schalk, als er zu mir raufschaute und ein verwegenes Lächeln schenkte.
Ich wollte widersprechen, aber die Worte versiegten mir im Mund. Natürlich hatte ich mich schon selbst berührt, aber es war nicht das Gleiche wie seine Finger. Ein wohliges Kribbeln wanderte in mir hinauf und ich erschauerte. Als ein nasses Geräusch ertönte, konnte ich nicht mehr hinschauen. Mein Kopf wanderte in den Nacken und meine Augen schlossen sich. Ich hatte schon lange die Kontrolle über meinen Körper verloren, nahm nur noch wahr, wie seine Finger die feuchte Stelle verließen und sich plötzlich in meine Schenkel krallten.
Eine kurze Verschnaufpause hatte ich, bevor ich seinen Mund dort spürte, wo vorher seine Finger verweilt hatte.
Verzweifelt krallte ich meine Nägel in die Rinde hinter mir. Zum einen damit meine weichen Knie nicht nachgaben. Zum anderen um ein weiteres Stöhnen zu unterdrücken. Doch es war ohnehin sinnlos, als ich spürte, wie seine Zunge meine Lippen teilte und hindurchfuhr.
Ein Seufzen entfleuchte mir und ich rutschte ein Stück hinab, immer noch an den Baum gepresst. Doch Kierans Hände hielten mich in Stellung, während er sich meiner empfindlichsten Stelle widmete.
Erneut vernahm ich ein nasses Geräusch, während ein Schauer nach dem anderen über mich hinwegjagte. Immer wieder spürte ich das Lecken und Saugen an meinem Kitzler. Und immer wieder wog eine Welle des Rauschs über mich hinweg und fegte auch das letzte bisschen Zweifel davon.
Ich erzitterte, als er sich in mir vergrub. Immer weiter baute sich das pulsierende Gefühl auf. Die Muskeln in meinen Oberschenkeln zuckten, bis es aus mir herausbrach. Eine Flut aus Glücksgefühlen, während ich das Gefühl hatte, meine Beine würden nachgeben. Alles verschwamm und eine Hitzewelle rollte über mich hinweg. Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann sackte ich erschöpft zusammen. Ich konnte nicht mehr denken, nicht mehr sprechen und nicht mehr stehen.
Doch anstatt auf den harten Boden zu sinken, fiel ich in Kierans Arme. Er hatte sich erhoben und seine Arme stützen mich, während ich wieder zu mir kommen musste. Meine Finger krallten sich in sein Hemd.
Erneut streiften seine feuchten Lippen meine. Sofort glühten meine Wangen.
Immer noch entrückt, aber eine Spur entsetzt fing ich seinen Blick ein.
„Warum?", entschlüpfte es meinen Lippen.
Kieran grinste forsch. „Ich habe mich schon länger gefragt, wie du schmeckst."
Ich verdrehte die Augen und wollte mich losmachen, aber er hielt mich fest und vergrub sein Gesicht in meinem Haar.
„Versprichst du mir etwas, Mari?"
Ich neigte den Kopf und er hob seinen, um mich anzusehen.
„Alles", antwortete ich ehrlich.
In dem Augenblick erklang ein Rascheln. Erschrocken fuhren wir beide auf.
Kieran schirmte mich ab, aber es war niemand zu sehen.
„Wildtier?", fragte ich mit dünner Stimme.
„Am helllichten Tag?" Misstrauisch sah Kieran sich um.
Sofort setzte ein altbekanntes Gefühl der Panik ein, hinweggefegt war die nachwallende Euphorie des Höhepunkts.
„Meinst du, jemand hat uns gesehen?", fragte ich ängstlich.
Kieran schüttelte den Kopf. „Wir sind viel zu weit weg."
Er wandte sich mir zu und strich erneut mit seinen Fingern über meine Wange. „Keine Sorge, es wird nichts passieren."
Doch mein Puls hämmerte mit meinem Herzen um die Wette.
Kieran nahm mich in seine starken Arme. „Dir wird niemand mehr etwas tun. Das verspreche ich dir."
Der Druck seiner Umarmung beruhigte die beklemmende Panik in mir. Langsam ebbte sie wieder ab. Erleichtert nahm ich einen tiefen Atemzug. Doch die Leere, die sie ließ, wurde prompt gefüllt. Von Scham und Schuld. Was hatten wir soeben getan?
Behutsam knöpfte Kieran mein Kleid wieder zu und ging in die Knie, um meinen Schlüpfer aufzuheben.
„Ich weiß nicht, ob ich den noch tragen mag", gab ich mulmig zurück. Allerdings nicht nur wegen der aufkeimenden Reue über das, was soeben passiert war. Die Fünf-Sekunden-Regel hatte das Höschen auf jeden Fall gebrochen.
Kieran grinste und steckte ihn sich in die Hosentasche. „Unten ohne, so wild kenne ich die gar nicht."
„Deine Schuld", gab ich zurück und richtete mein Haar. Niemand durfte sehen, was passiert war.
Kieran umgriff meine Hand. „Die Hälfte der Leute ist eh halb blind. Und ich mag es, wie du aussiehst."
Ich spürte, wie meine Wangen zum wiederholten Male erröteten. „Ach und die andere Hälfte?"
Mit sanftem Druck zog er mich zu sich. „Wird denken, du hattest einen sehr sportlichen Waldspaziergang."
„Deshalb sehe ich auch so zerstört aus."
Seine Finger glitten durch mein Haar und er zog sachte daran, um meinen Kopf ein Stück nach hinten zu dirigieren, damit ich ihn ansah.
„Du hast nie hinreißender ausgesehen als jetzt." Gedankenverloren strichen seine Daumen über meine Wangen. „Versprichst du mir, dass du, wenn du hier verschwindest, nicht mehr zurückkommst?"
Verwirrt sah ich ihn an. „Ich dachte, wie verschwinden zusammen."
Sein Daumen war an meinen Lippen angekommen und malte die Kontur meiner Unterlippe entlang. Für einen Moment wirkte sein Blick gequält.
„Kieran?", fragte ich mit sorgenvoller Stimme.
Rasch legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Ja, aber wenn dann für immer?"
Ich erwiderte das Lächeln. „Ja, für immer."
Wer würde schon an diesen Ort zurückkehren wollen, außer unter äußerstem Zwang. Und selbst dann ...
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Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...