Kapitel 11

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„Wollen wir nicht langsam runtergehen?", drängelte Halima.
„Ja, der Alk ist auch schon leer", stimmte Mei mit ein und setzte sich aufrecht hin.
„Oder wir bleiben einfach entspannt hier oben, während die Affen da unten sich abschießen", murmelte Banu und kuschelte sich in mein Kissen. Sie griff nach Miau, dem kleinen Plüschbären.
„Ich bin übrigens auch dafür", raunte sie mit tiefer Stimme und ließ den Bären eine Tatze heben.
„Du hast immer noch Kuscheltiere in deinem Bett?" Lilia legte den Kopf schief. „Ich habe meine vor zwei Jahren an meinem Geburtstag rausgeschmissen."
„Du hattest ja auch fünfzig." Mei lachte. „Niemand außer dir hatte noch Platz in deinem Bett und das ist ein zwei Meter breites Kingsize-Modell."
„Haha." Lilia verdrehte die Augen.
„Und hat es dabei geholfen, dass sich endlich ein Typ in dein Bett traut?", feixte Banu.
„Banuuu", kam es empört zurück.
„Was denn? Ich will wirklich nicht darunter zu den besoffenen notgeilen Idioten. Lass oben bleiben."
Ich musste grinsen. Wir saßen zu fünft in meinem Zimmer. Banu und ich auf meinem Bett. Lilia hatte meinen Schreibtischstuhl und Halima meinen gemütlichen Lesesessel okkupiert, während Mei auf dem Boden saß und eine der leeren Champagnerflaschen an die Lippen setzte, ob nicht doch noch ein Tropfen rauszuholen war. Ich fragte mich, ob ihre Eltern nicht langsam merkten, dass da ein edler Tropfen nach dem anderen aus ihren Vorräten verschwand.
Aus dem offenen Fenster dröhnte basslastige Musik hinein, begleitet von lautem Lachen und Stimmengewirr, das zwar schwer zu verstehen war, jedoch das ein oder andere lallende Geschrei vernehmen ließ. Kierans sturmfreie Wochenend-Party war bereits in vollem Gange.
„Auf gar keinen Fall", kam es von Halima und Lilia im Chor und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Beide sahen toll aus. Halima in einem glitzernden Top mit enger Jeans und Lilia in ihrem perlmuttfarbenen Satinkleid, das sich auf einem schmalen Grat zwischen Lingerie und Partyoutfit bewegte. Auf mindestens drei Stunden schätzte ich die Zeit, die in Makeup, Frisur und Styling geflossen war.
Dagegen wirkten Banu, Mei und ich wie traurige Walmart-Puppen im Sonderangebot.
„Sicher, dass ihr beiden und Mei euch nicht noch umziehen wollt?", fragte Lilia und blinzelte in Richtung meines Kleiderschranks. „Du hast doch bestimmt noch ein paar passende Kleider, Mari."
Ich rollte mit den Augen, aber Mei kam mir zuvor: „O nein, definitiv nicht. In Maris keusche-Sonntags-Jungfrauenroben kriegen mich keine zehn Pferde."
Lachend warf ich ein Kissen nach ihr. Gut, dass die Champagnerflasche leer war. Klirrend fiel diese um. Ich wusste, dass sie es nicht böse gemeint hatte und nahm es ihr auch nicht übel. Die Kleidung in meinem Schrank hatte nicht ich mir ausgesucht.
„Dann trag wenigstens etwas Lippenstift auf." Halima warf eine schmale schwarze Hülle in Richtung Bett. Direkt in Banus Schoß.
Diese reichte mir den Lippenstift weiter. „Ich verzichte dankend."
„Chanel", gab ich bei Betrachtung des Lippenstifts zurück.
„Ja, ist brandneu und steht dir bestimmt auch prima. Ist auch kussecht." Halima zwinkerte mir zu.
Ich öffnete die Kappe und biss mir auf die Unterlippe. Er war knallrot.
„Ich weiß nicht ..."
„Komm jetzt mach schon", sagte Lilia und erhob sich. „Und du auch, Mei. Es ist schon unangenehm genug, dass ihr immer noch eure Schuluniformen tragt."
„Ey", kam es von Mei. „Zuerst einmal, haben wir die obersten Knöpfe auf." Sie warf uns einen verführerischen Blick zu. „Ganz wild also. Und außerdem hatten wir noch spätes Training, du Modediktator. Und by the way, Banu trägt auch nur ne Jogginghose."
Halima rieb sich beim Anblick ihrer Zwillingsschwester die Stirn.
„Ja, aber Banu kann das halt auch tragen. Das ist halt ihr Style. Der ..." Lilia grübelte.
„Penner-Style", kam es von Banu zurück.
„Ich glaube kaum, dass sich ein Penner eine Jogginghose von Balenciaga leisten kann."
„Also ich habe am Londoner Bahnhof im letzten Urlaub einen Drogenabhängigen mit Gucci-Gürtel gesehen", kommentierte Halima nachdenklich.
„Der ist auch bestimmt nicht fake", spottete Banu.
„Manche spenden auch Designerkleidung", gab ich zu Bedenken.
„Ja, bitte spende deinen gesamten Kleiderschrank", quäkte Mei und erhob sich nun ebenfalls.
Kopfschüttelnd leerte ich den Rest meines Glases.
Nach einer halben Stunde schafften wir es tatsächlich aus meinem Zimmer heraus nach unten zu gehen. Mei und ich noch immer in unseren Schuluniformen, dafür aber mit roten Lippen. Auch wenn es ungewohnt war, entlockte es mir beim Blick in einen der Wandspiegel im Flur ein leises Lächeln. Es komplementierte mein dunkles Haar und schmeichelte meinem Teint. Und es erinnerte mich an meine Mutter. Sie hatte rote Lippenstifte geliebt. Auch wenn Chanel natürlich nie drin gewesen war.
Draußen schlug mir ein kühler Wind entgegen. Die Musik hämmerte noch immer durch die Nacht. Es waren wirklich viele Leute gekommen.
Sorgenvoll blickte ich auf einen torkelnden Jungen in meinem Alter, der aussah, als ob der gesamte Alkoholvorrat, den er inhaliert haben musste, gleich wieder nach oben befördert würde. Von den umherliegenden Plastikbechern und der kleinen Gruppe, die ein wenig abseits ihre Zigaretten wegschnipsten, ganz zu schweigen. Das würde morgen ein Heidenspaß werden.
„Und ein paar Shots für uns." Lilia und Halima kamen auf uns zu mit einem Tablett.
Auch wenn ich den Champagner, mit dem wir auf meinem Zimmer vorgeglüht hatten, bereits merkte, war ich noch nicht so betrunken, dass ich doppelt sah.
„Das sind zehn Gläser", kommentierte Banu und bestätigte mich in meiner Wahrnehmung.
„Zwei für jeden, liebste Schwester." Halima grinste und verteilte die Gläser.
Ja, das dürfte morgen wirklich ein Heidenspaß werden.
„Auf einen geilen Abend", flötete Mei und nacheinander kippten wir die beiden klaren Flüssigkeiten hinunter.
Das erste war eindeutig Tequila. Das zweite ... keine Ahnung, aber es brannte wie Kierans thailändisch-mongolische Fusionsküche. Hustend machte ich mich auf die Suche nach etwas löschendem. Wobei ich bezweifelte, hier ein Glas Milch zu finden. Vielleicht einen Baileys, wenn ich Glück hatte.
„Du, Mari." Lilia lief hinter mir her, bereits einen leichten Schwips in Stimme und Gang.
„Hm?", gab ich zurück und wurde an einem der Tische fündig. Ich nahm einen der Plastikbecher und öffnete eine hellbraune Flasche, die wohl etwas mit Sahne und Schokolade und natürlich Alkohol enthielt. Fragend hielt ich sie Lilia entgegen.
Sie nickte und nahm sich ebenfalls einen Becher.
„Hast du deinen Bruder schon gesehen?", fragte sie, während ich uns einschenkte.
„Puh, keine Ahnung, wo Kieran ist." Auch leicht beduselt im Kopf, sprach ich über ihn nie als meinen Bruder. Er war Kieran.
„Wieso?" Ich stellte die Flasche weg und wir stießen an.
Trotz der Dunkelheit und den wenig verstreuten Lichtern, konnte ich erkennen, wie sich ihre Wangen röteten.
„Ach nur so", sagte sie und kippte den Inhalt hinunter.
Ich tat es ihr gleich, hätte es aber liebend gerne direkt wieder ausgespuckt. Es war fürchterlich süß.
Ich stellte den Becher beiseite. Nein, ich würde heute definitiv bei Cola bleiben.
„Vielleicht kannst du mir schreiben, wenn du ihn siehst."
Ich legte den Kopf schräg. „Aha, und warum sollte ich das tun?" Es war ein liebevolles Necken. Mir war nicht entgangen, dass Lilia öfters nach ihm fragte.
„Nur so, wir müssen ein Referat in Chemie zusammenhalten und ich wollte noch ein, zwei Punkte mit ihm klären."
Schmunzelnd öffnete ich eine kleine Dose Cola. „Auf einer Party über Schule sprechen? Und dich stört es, dass ich noch meine Schuluniform trage."
„Ja, das ..." Lilia ließ den Blick peinlich berührt umherwandern.
„Keine Sorge, ich gebe dir Bescheid, wenn ich ihn sehe."
„Danke, ich schaue sonst auch selbst einmal."
Zerknirscht blickte ich ihrer eleganten Silhouette beim Verschwinden zwischen den angeheiterten Gruppen zu. Irgendetwas in mir wollte nicht, dass sie ihn fand.
Ich schüttelte den Kopf. Das war albern. Beschwingt bahnte ich mir mit meiner Cola nun ebenfalls den Weg durch die kleinen Grüppchen auf der Suche nach meiner Lippenstift-Schuluniform-Schwester.

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