„Ich muss wirklich los." Mit einem Lachen versuchte ich mich loszueisen, aber wurde prompt zurückgezogen.
„Aber was soll ich dann den ganzen Tag ohne dich tun, Babe?"
Schmunzelnd ließ ich mich in den Arm nehmen. „Vielleicht hättest du den Urlaub mit mir absprechen können. Dann hätten wir gemeinsam frei bekommen und die Tage zusammen verbringen können. Außerdem bist du erwachsen, Caleb, du bekommst den Tag schon rum." Ich drückte ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange.
Hätte ich das mal nicht getan.
Sofort folgte ein Schwall von Küssen auf meinen Hals, Wangen, bis sie schließlich meine Lippen fanden.
„Sicher, dass du nicht einfach ein Stündchen später beginnen kannst?" Erneut wollte Caleb mich in unser Schlafzimmer ziehen.
Mit einem Kopfschütteln schaffte ich es, mich endgültig zu befreien. „Ich bin schon knapp dran. Gina wird mir den Kopf abreißen, wenn ich zu spät komme."
Mit einem Seufzen ließ er von mir ab. „Na gut, aber vielleicht kannst du ja früher Feierabend machen."
Ein Prusten entfuhr mir. „Ich kann froh sein, wenn ich regulär Feierabend machen kann. Aber solange ich weg bin, kannst du vielleicht etwas aufräumen." Mein Blick schweifte durch unsere kleine Wohnung. Während des Wochenendes hatte ich es geradeso geschafft, die Wäsche der vorherigen Woche zu machen und wenigstens das Bad zu putzen. Der Rest glich einem Trümmerhaufen.
„Ja, chill. Ich kümmere mich später drum."
Ich verdrehte die Augen. „Ich meine es ernst. Sonst haben wir heute Abend kein einziges Glas mehr, aus dem wir trinken können."
„Wir könnten auch ausgehen." Er nahm meine Hand und hauchte einen Kuss auf diese. „Ehefrau."
Ein Flattern durchzog meinen Bauch. Auch wenn wir bereits seit drei Monaten verheiratet waren, fühlte es sich noch immer fremd an. Einzig der Nachname fühlte sich so viel wohler an. Marisol Abrams. Nicht mehr Delorean ... ein weiteres schauriges Überbleibsel von damals abgestreift.
Ich seufzte. „Und von welchem Geld?"
„Wer weiß, vielleicht gewinn ich heute ne ordentliche Summe und dann lade ich dich ein."
„Hm", gab ich zweifelnd zurück. „Bisher hat uns dein Online-Glücksspiel eher Geld gekostet."
„Ja, aber kennste nicht die Statistik. 99 Prozent aller Leute hören genau vor dem großen Gewinn auf."
Nein, die Statistik kannte ich nicht und bezweifelte auch, dass sie allzu valide war.
„Ansonsten kann ich n bisschen was von meinen Coins locker machen", bot Caleb an und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Auf meinen mahnenden Blick hin, nahm er sie wieder raus. Er wusste, dass ich es nicht mochte, wenn er drinnen rauchte. Das letzte, was in dem aktuellen Chaos noch fehlte, war ein penetranter Rauchgeruch, der womöglich noch in die Tapete zog und uns unsere Kaution kosten würde.
Ich seufzte. Coins ... seine Kryptoanlagen waren leider genauso wenig ertragreich wie sein Glücksspiel. Allerdings war es besser als nichts.
„Wenn du ein bisschen was verkaufen könntest, dass wir die Rechnung für die Reparatur vom Vermieter zahlen können, wäre das prima."
Caleb winkte ab. „Ach Babe, den Typen ruf ich später mal an und klär das."
„Sicher?", fragte ich gequält und warf einen hastigen Blick auf die Uhrzeit auf meinem Handy. „Ich musst jetzt auch los. Aber sei bitte vorsichtig. Der Vermieter hat uns eh auf dem Kicker." Weil Caleb auch die Zahlung der letzten zwei Rechnungen hatte „klären" wollen. Wenig erfolgreich.
„Das wird", sprach er zuversichtlich. „Und dann lade ich dich heute Abend schick zum Essen ein."
Mit einem Grinsen entgegnete ich: „Du weißt, dass ich heute nach der Arbeit meinen Spanischkurs habe."
„Vielleicht kannst du den ja ausfallen lassen."
Ich zog die Augenbrauen zusammen.
„Ja, ich weiß." Caleb nahm mich noch einmal in den Arm und gab mir einen Abschiedskuss. „Dann haste la noche."
„Hasta la noche mi amor." Mit einem letzten Kuss verabschiedete ich mich und schlüpfte durch die Haustür.
Eilig begab ich mich auf den Weg zur Arbeit. Das hatte heute Morgen alles schon viel zu lange gedauert.
Eine dreiviertel Stunde später saß ich endlich an meinem Schreibtisch.
„Ah Marisol, schön, dass du schon da bist."
Mir entging nicht Ginas vorwurfsvoller Unterton, der ihre Feststellung begleitete, weshalb ich doppelt freundlich entgegnete: „Guten Morgen Gina, wie war dein Wochenende?"
Es folgte ein theatralisches Stöhnen. „Grauenvoll. Ich war auf vier Tinder-Dates und jedes Mal eine Katastrophe. Wenn das so weitergeht, habe ich bald ganz Seattle durch und bin immer noch Single like a Pringle."
Ich grinste. „Vier ist aber auch ein ordentliches Pensum. Vielleicht fährst du mal zurück und konzentrierst dich auf einen Mann. Lernt euch etwas besser kennen und eventuell funkt es ja auch erst ein wenig später. So war es bei Caleb und mir auch."
Als hätte ich vorgeschlagen, sie möge doch bitte meine Überstunden bezahlen, starrte Gina mich an. „Ich habe keine Zeit. Meine biologische Uhr tickt."
„Ich dachte, du hättest deine Eier einfrieren lassen."
„Ja, aber trotzdem. Es geht ums Prinzip. Außerdem habe ich null Komma null Zeit für ... Zeitverschwendungen. Weder im Job noch bei Männern."
Ich schmunzelte. „Ich bin mir sicher, dass irgendwann der Richtige dabei ist. Wir alle brauchen doch ein paar Anläufe." Ein Schauer lief mir über den Rücken, als mein erster Anlauf an meinem inneren Auge vorbeistreifte. Schnell schob ich ihn weg.
„Ja, Anläufe. Das war bei mir eher ein Katastrophenlauf. Aber ist ja auch egal. Erst die Arbeit dann das Vergnügen."
„Was steht an?", fragte ich motiviert.
„Unser Caterer für das Spendenevent im Radisson stand heute in den Schlagzeilen. Salmonellen-Skandal. Ich habe ihn bereits freundlich gekickt."
Ich biss mir auf die Wange, denn ich kannte Ginas freundliche Art.
„Könntest du noch einmal unsere Liste durchgehen und schauen, ob sich wer kurzfristig finden lässt. Außerdem habe ich eine Anfrage eines Vereins für die Förderung von Inklusion im Kulturbereich bekommen. Habe ich dir bereits weitergeleitet. Es wäre klasse, wenn du da einmal recherchieren und mir eine Entscheidungsgrundlage für eine Kooperation zusammenstellen könntest."
Ich nickte, während Gina munter eine Liste von Aufträgen runterratterte.
„Klar, ich kümmere mich drum und sende dir die Sachen zu", gab ich zurück, als sie fertig war.
„Prima." Gerade wollte Gina davon rauschen, als ich mir ein Herz fasste und die Chance ergriff, ein lang ersehntes Anliegen anzusprechen.
„Warte, ich wollte noch einmal wegen der möglichen Beförderung mit dir sprechen."
Gina hielt inne und ein gekünsteltes Lächeln zierte ihr Gesicht. O je.
„Ach Mari, meine Liebe. Ich würde dir soooo gerne positive Nachrichten überbringen. Aber ich fürchte, ohne einen Bachelorabschluss können wir dir die Stelle nicht geben. Master wäre natürlich noch besser, aber Bachelor ist halt Minimum. Ich weiß, du hast es echt drauf und als NGO sind wir ja auch sozial und wollen Barrieren ab- und nicht aufbauen. Aber ich habe mit Personal gesprochen und der Bachelor ist wirklich zwingend. Vielleicht kannst du doch parallel einen machen. Irgendwie. Dann könnten wir noch einmal schauen, ob wir da schon früher was drehen können."
Ich kniff meine Lippen zusammen. Als ob ein Studium mal eben so kostenlos vor der Tür liegen würde.
„Ich weiß nicht, ob ich das finanziell gestemmt ..."
„Jaja, ich weiß, du bekommst das schon hin. Wir können aber nochmal später reden, okay." Ginas genervter Blick war an ihrem Handy fest geeist. „Ich habe jetzt auch einen harten Anschlag und muss in den nächsten Call. Bis später."
„Bis später", raunte ich zurück.
Geknickt blickte ich ihr hinterher.
Automatisch langten meine Finger nach meinem Handy.
Ich tippte auf den Chat mit Banu und Mei.
Ich: Hey, ich hab's angesprochen. Also mit der Beförderung.
Noch während ich an der nächsten Nachricht saß, kam Mei mir bereits zuvor.
Mei: Super, dass du dich getraut hast! Machen wir später nen Sekt auf?
Ich: Leider wohl nicht. Sie meinte, ohne Bachelor klappt es nicht. Und das kann ich mir momentan nicht leisten.
Mei: Ich kann was von meinen Eltern abzwacken.
Ich musste lächeln. Es rührte mich immer wieder. Doch sie hatte schon so viel für mich getan. Als ich damals von zuhause ... nein, aus dem Alptraumhaus geflohen bin, hatte sie mich bei sich aufgenommen, bis ich einen Job gefunden hatte und etwas Geld zusammenkratzen konnte.
Ich: Das kann ich nicht annehmen.
Mei: Die stört es nicht. Haben genug Kohle.
Banu: Kann Mari verstehen. Wenn sie es nicht möchte, lass es.
Ich: Hey Banu, hoffe du hattest heute wenigstens Erfolg.
Banu: Nee, der Prof ist ein Sexist und meinte, er fände es ja lobenswert, dass ich Informatik studiere, aber dass seine Abschlussarbeitsthemen doch etwas zu komplex für mich wären.
Mei: So ein Arsch! Da machen wir heute ne Flasche Frustsekt auf.
Gerade wollte ich tippen, als ein Anruf reinkam.
Lilia.
Verwirrt starrte ich auf ihren Namen. Wir hatten nur selten Kontakt. Zum einen wohnte sie noch immer in der Heimat, die ich so nicht nennen und hinter mir lassen wollte. Zum anderen ...
„Hallo?", fragte ich in das Handy rein, nachdem ich den Anruf angenommen hatte.
„Hallo Mari", kam es leise zurück. „Störe ich dich gerade?"
Ich ließ meinen Blick durch das Großraumbüro schweifen, aber die beiden einzigen Kollegen, die außer mir hier waren, hingen mit Headsets in Telefonkonferenzen.
„Ich bin auf der Arbeit, also eigentlich ... Ist es wichtig?"
Ein schweres Atmen war zu hören.
„Es dauert nicht lange, nur ...", flüsterte Lilia.
Langsam machte ich mir Sorgen.
„Ist etwas passiert mit ..." Nervös fuhr ich mit den Fingern durch einen der langen klimpernden Ohrringe, die ich auf dem Flohmarkt ergattert hatte. Ich wollte seinen Namen nicht aussprechen.
„Nein, Kieran geht es gut. Also körperlich gut. Es ist nur so." Erneut nahm Lilia einen tiefen Atemzug. „Es tut mir so leid, aber euer Großvater ist verstorben."
Die Nachricht fegte wie ein Sturm über mich hinweg und auch alle Gefühle. Stattdessen fühlte ich mich merkwürdig leer.
Ich war nicht traurig, aber auch nicht erfreut oder, wie vielleicht erwartet, erleichtert.
Ungläubig starrte ich auf meinen Bildschirm. Oder viel mehr hindurch. Mein Körper fühlte sich merkwürdig taub an.
„Was ist passiert?", fragte ich und nahm kaum meine eigene Stimme wahr.
„Er hatte wohl einen Herzstillstand", presste Lilia hervor und ich konnte heraushören, wie sie die Tränen unterdrückte. Dabei war der Mann doch keine einzige wert.
„Danke dir fürs Bescheidgeben", erwiderte ich wie ferngesteuert.
Lilia schniefte. „Kein Problem. Ich wusste nur nicht, ob Kieran dir schon Bescheid gesagt hat oder ..."
„Du weißt, wir stehen uns nicht sonderlich nahe." Hatten die Wörter früher unheimlich geschmerzt, gingen sie mittlerweile halbwegs erträglich über meine Lippen.
„Ja", hauchte es in den Hörer. Ein wenig Verzweiflung schwang mit und es tat mir leid. Lilia war seine Verlobte und sie wusste, dass wir kaum Kontakt hatten. Am Anfang hatte sie noch nach dem Warum gefragt, aber nachdem ich immer ausgewichen war, hatte sie es irgendwann so hingenommen.
„Kieran", zwang ich mich, seinen Namen auszusprechen. Es fühlte sich fremd nach all den Jahren an. „Kieran kann froh sein, dass er dich an seiner Seite hat."
„Ja", wiederholte sie. „Aber ..."
Lilia zögerte. „Ich glaube, es wäre gut, wenn du kommen würdest."
Jetzt spürte ich wieder etwas. Angst. Panik. Es war wie ein Peitschenhieb. Ich wollte unter keinen Umständen dorthin zurück.
„Ich weiß nicht", gab ich ratlos zurück. Mein Blick traf den Bildschirm. „Ich habe unglaublich viel Arbeit hier."
„In Todesfällen gibt es aber doch bestimmt eine Ausnahme."
Nervös sah ich zur Tastatur. „Aber was soll ich da?"
„Vielleicht gibt es ein paar Sachen in dem Haus, die du haben möchtest."
Nichts wollte ich aus diesem Haus. Ich wollte das es verschwand, wie der Mann, dem es gehörte.
„Das ist lieb, dass du da an mich denkst", sagte ich. „Aber ich habe damals alles mitgenommen, was ich brauchte."
„Vielleicht dann für Kieran", flüsterte es wieder.
Erneut ein Schlag. Dieses Mal in die Magengrube.
„Ich glaube, er hat mit dir den seelischen Beistand, den er braucht. Wie gesagt, wir stehen uns nicht mehr so nahe."
„Hm ja, aber für die Testamentsverlesung wäre es schon gut, wenn du kommen würdest."
Nun hätte ich am liebsten losgeprustet. Keinen Cent würde der Mann, dem ich am Ende nur „Schmach und Schande" gebracht hatte, an mich vererben.
„Ich denke nicht, dass meine Anwesenheit notwendig ist."
„Er war dein Großvater."
Ich verstand nicht, wieso Lilia so darauf beharrte.
„Und vielleicht gibt es doch noch Erinnerungsstücke, die du haben möchtest. Das Haus ist wie eine Schatzkiste. Und Caleb kann auch mitkommen, als emotionaler Beistand. Ihr könntet bei uns im Haus übernachten."
Den Teufel würde ich tun und bei ihnen schlafen. Allerdings könnte Lilia mit einer Sache Recht haben. Das Haus war eine Schatzkiste, obwohl das Feuer damals einiges vernichtet hatte. Auch wenn sich alles in mir sträubte, wäre es vielleicht eine Chance. Mein Blick wanderte zu der Glastür, die durch eine Jalousie verdeckt war. Gina thronte hinter dieser – bestimmt fleißig am Telefonieren oder Tindern.
Auch wenn ich nicht besonders abergläubig war, war es vielleicht ein Zeichen. Eine Chance, doch noch studieren zu können. Nicht nur für den Job, sondern auch für mich. Der alte Mann hatte mir so viel genommen, wäre es da nicht fair, etwas zurückzunehmen. Allerdings wollte ich nichts besitzen, was mich mit ihm verband. Ich hatte die letzten Jahre so hart darum gekämpft, all das abzustreifen. So hart gearbeitet, eine neue Marisol zu sein. Ein eigenes Ich, verwurzelt in dem Erbe meiner Mutter und Großeltern. Nicht das, was er aus mir hatte machen wollen. Doch aktuell traf ich auf eine unüberwindbare Mauer. Und wie für so viele bestand diese in Geld. Oder besser fehlendem Geld.
Ich seufzte. „Ich überlege es mir."
„Das ist prima", tönte es freudig aus dem Hörer.
„Ich kann aber wirklich nichts versprechen. Wahrscheinlich werde ich es nicht einrichten können, wegen der Arbeit und allem."
„Ich bin überzeugt, dass du einen Weg findest, Mari. Ich würde mich auch so freuen, dich endlich mal wiederzusehen. Halima auch. Ihr seid da ja so ein verschworenes Dreitrüppchen in Seattle. Ich kann ja auch Mei und Banu mal fragen, ob sie das Wochenende kommen können", sprudelte es aus ihr heraus. „Das wäre doch superschön. Vielleicht wird es ja dann wieder wie früher."
Bitte nicht, schickte ich als stilles Stoßgebet nach oben.
Bitte nicht wie früher ...
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Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...