„Marisol!"
Müde streckte ich meine Glieder.
„Marisol!", rief eine ungeduldige und energische Stimme.
Ich blinzelte in helles Licht. Zu hell.
„Jetzt reiß dich zusammen", kam es harsch.
Sofort schnürte sich mir der Magen zu. Die Stimme sorgte dafür, dass sich mir jedes Nackenhaar aufstellte.
Angestrengt versuchte ich meine Augen an das gleißende Licht zu gewöhnen. Nicht, dass die Stimme noch ungehaltener wurde. Aber es war gar nicht so leicht. Es war nicht nur Tageslicht, das ins Zimmer schien. Es war auch alles merkwürdig weiß. Eine so grelle Farbe, die alles Licht reflektierte und mein Vorhaben dadurch noch mehr erschwerte.
„Marisol", mahnte die unliebsame Stimme.
Ich wandte mich und langsam erkannte ich meine Umgebung, wobei meine Nase mir zuvorkam. Ein steriler Geruch umhüllte mich. Ein Geruch, den ich fast noch mehr hasste als die Stimme, die zu mir sprach.
Erschrocken fuhr ich hoch. An meinem Handrücken zog es unangenehm.
Fahrig sah ich hinab. Ein Zugang war an meinem Arm gelegt worden und der Schlauch führte ... zu einem Tropf. Ein Tropf, der neben einer Reihe an Geräten und Monitoren stand. Ich war in einem Krankenhaus.
„Na endlich", kam es angespannt zurück.
Ich blickte zur Quelle der nicht enden wollenden Vorwürfe.
Großvater saß mit braunem Anzug und übereinander geschlagenen Beinen neben dem Krankenhausbett und musterte mich. So wie er die Hände auf seinem Knie gefaltete hatte, wirkte wie ein Therapeut. Aber im Gegenteil, er war derjenige, der die psychischen Schäden verursachte und nicht bei ihrer Heilung half.
„Was ist passiert?", fragte ich benommen.
Ein hämisches Lachen erklang. „Ja, was ist passiert? Das ist hier die Frage."
Ratlos sah ich ihn an, bis die Erinnerungen bruchstückhaft zurückkehrten. Das Haus. Das Feuer. Kieran, der Möbel zertrümmerte und alles in Schutt und Flammen legte.
„Da erinnert sich wohl jemand", quittierte Großvater meinen Ausdruck.
„Was ist mit Kieran?", erwiderte ich panisch.
Großvater lehnte sich zurück. „Der ist wohlauf. Aber es ist wohl das Beste, das ihr euch eine Weile nicht seht."
Entsetzt starrte ich ihn an. „Wo ist er?"
Großvater funkelte mich unter seinen grauen, buschigen Augenbrauen an. „Da wo er hingehört."
„Ins Gefängnis?"
Auf einmal folgte ein lautes Lachen, das tatsächlich amüsiert klang.
Da beruhigte Großvater sich wieder. „Eine frühschwangere Tochter und jetzt noch ein pubertärer Brandstifter als Enkel. Denkst du, ich will meinen Ruf vollends ruinieren?"
Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte. Zudem spürte ich, wie mein Kopf wieder schmerzte. Das Aufwachen hatte schon zu viel Kraft gekostet. Ich sackte zurück ins Kissen.
„Was hast du mit ihm gemacht?", hauchte ich.
„Das dürfte nicht mehr dein Problem sein. Er ist für eine Zeit fort und das ist gut so. Ihr seid kein guter Einfluss füreinander."
„Das stimmt nicht", flüsterte ich.
Wieder ein hämischer Lacher. „Ist dem so? Und wieso redete Kieran dann mit den Ärzten über deine Schwangerschaft?"
Ich biss mir auf die Wange. Eine weitere Erinnerung kehrte zurück.
„W- was?", stotterte ich.
„Ja, ein unglaublich tolles Märchen, das du dir da überlegt hast. Als ich davon hörte, hätte es mir beinahe einen Schlag verpasst. Das gleiche Elend wie bei Aubrey. Eine Dauerschleife an Enttäuschungen."
„Ich bin nicht schwanger", gab ich betreten zu und wagte es nicht, Großvater anzuschauen.
„Ja, das haben die Ärzte dann auch bei der Untersuchung festgestellt. Du hast alle ganz schön auf Trapp gehalten. Diva würde man wohl dazu sagen."
„Das war doch keine Absicht. Ich wollte ..." Ein Husten beendete meinen Satz. „Was ist mit Kieran?"
„Ich sagte doch, dass dies nicht mehr dein Problem ist." Ich hörte, wie Großvater sich nach vorne lehnte. Der Geruch von altem Holz und Polstern wehte herüber. Er trug den Geruch des Hauses mit sich und er war fast so schlimm wie der des Krankenhauses.
„Es hat ein gutes Stück Aufwand bedeutet, die Feuerwehr und Polizei von Kierans Unschuld zu überzeugen. Also behalten wir seinen Fehltritt gefälligst für uns."
„Wann kommt er wieder?"
Großvater schnäuzte. „Wenn ich denke, dass er wiederzukommen hat."
Unsicher blinzelte ich zu ihm herüber.
„Aber denk nicht, dass du ihn vor deiner Volljährigkeit zu Gesicht bekommen wirst."
Blankes Entsetzen rollte über mich hinweg. Ich würde doch nicht bis dahin allein mit Großvater in diesem Haus wohnen.
„Ich kann nicht ..." Panik machte sich in mir breit.
Er schien meine Gedanken lesen zu können. „Ach Marisol, wo willst du sonst hin? Vielleicht findest du jetzt auch einmal die Zeit, deine Schulambitionen voranzutreiben."
Verzweifelt blickte ich zur kahlen Decke. Die Hölle. Es war die Hölle höchstselbst, die sich in den letzten Sekunden vor mir eröffnet hatte. Das davor war nur eine Vorkammer. Der Alptraum würde jetzt erst beginnen. Und ich sah bereits, wie sich erneut eine unliebsame Tür in einen der schlimmsten Räume dieser Welt für mich öffnete.༺❀༻
Meine Fingerspitzen wanderten über die hölzerne Verzierung der Kommode neben dem Gästebett, auf dem ich ruhte. Es roch muffig. Wie alles hier in diesem verstaubten Gästeflügel. Der verkohlte Part des Hauses und das Stockwerk zu meinem alten Zimmer waren abgesperrt. Wieder ein verbotener Trakt. Doch dieses Mal lag dort nichts außer Asche. Ein paar persönliche Sachen hatte ich noch aus meinem Zimmer geholt.
Gerade einmal zwei Tage lag meine Entlassung zurück. Zwei Tage, in denen Großvater glücklicherweise unterwegs war und Yuna – die aus unerfindlichen Gründen wieder zurückgekehrt war – ihre Begeisterung für die Krankenpflege entdeckt hatte. Doch jetzt war sie einkaufen und mir ein Moment der Ruhe vergönnt.
Mein Blick streifte Miau, den Bären. Ein Stechen durchzog mich.
Kurzerhand packte ich das Kuscheltier und lief zu der knarzenden Kommode. In die hinterste Ecke pfefferte ich es. Auch wenn Miau nichts dafürkonnte. Es war die Person, die sie mir geschenkt hatte, die mich im Stich gelassen hatte. Keinen Ton hatte ich von ihm gehört. Nicht mal eine Nachricht aufs Handy. Dabei musste er seines dabeihaben. Gestern Abend meinte ich Großvater beim Telefonieren mit ihm gehört zu haben.
Tiefatmend fächerte ich mir Luft zu. Seit der Nacht des Feuers hatte ich ständig das Gefühl, nicht genügend Sauerstoff zu bekommen.
Schnurstracks lief ich aus dem Gästezimmer hinaus. Ich musste nach draußen. Doch auf Höhe der Treppe blieb ich stehen. Sie führte hoch zu unseren Zimmern.
Ich wusste nicht, was es war, aber etwas zog mich nach oben.
Vor Kierans Tür blieb ich erneut stehen. Bisher hatte ich mich nicht getraut, sie zu öffnen. Ich hatte Angst, dass es mir vollständig den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Aber ich konnte nicht ewig davor weglaufen.
Mit einem Ruck riss ich die Tür auf. Kurz setzte mein Herz einen Schlag aus, aber dann pochte es gemächlich weiter.
Es sah aus wie immer. Ein paar seiner Sachen fehlten. Aber sein Duft hing noch immer in den Möbeln, der Tapete. In allem.
Meine Finger krallten sich um die Klinke, als es mir klar wurde.
Ich konnte hier nicht bleiben. Nicht die nächsten Monate, nicht die nächsten Wochen. Nicht einmal einen Tag wollte ich noch hierbleiben.
Ich musste weg.
Noch heute.
Jetzt.
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Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...