.16 - Flughafen

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Ich sah Ercan entsetzt an. So etwas kann und darf er von mir doch nicht erwarten. So sehr ich auch meinen Bruder liebte, liebte ich auch Eymen. So sehr ich aus reiner Provokation liebend gern gesagt hätte, dass meine Wahl bei meinem Verlobten bleiben würde, beherrschte ich mich. Ich zitterte am ganzen Körper, denn so etwas hatte ich nicht erwartet. Ich war enttäuscht, dass mich mein Bruder absichtlich in so eine Zwickmühle reinschubsen ließ. Ich war enttäuscht, dass er mich mit so etwas konfrontierte. Entweder er oder Eymen. Doch wen sollte ich den wählen, wenn ich die beiden gleich viel lieb hatte? Ich hatte ebenso nicht das Recht einer der Beiden mit meiner Entscheidung zu verletzten. Aber genau das wollten die beiden. Doch sie würden mit so einer Aufforderung nicht den Gegner verletzten, sondern lediglich nur mich. Eymen und Ercan sahen mich fordern an, die mich nur noch wütender machten. Je länger ich darüber nach dachte, desto mehr verschwand meine Beherrschung und mein innerer Kampfhund bellte wie wild in mir rum. Er bellte so laut, dass es in mir bebte und mich wütender machte. Doch ich wusste, dass ich mich ruhig verhalten musste, um keine blöden Entscheidungen zu treffen. Meine Tränen flossen mittlerweile ihren Weg auf meinen Wangen runter. Doch nichtmal das erschauderte meinen Bruder sowie meinem Verlobten zurück. Verletzt sah ich beide kurz an, bevor ich meinen Rücken zu ihnen drehen ließ und mit großen Schritten in mein Zimmer zu lief. Ich hatte nicht vor mich in mein Zimmer einzusperren, sodass ich lediglich nach meiner Zeichenmappe griff und sogleich in die Richtung des Ausgangs lief. Ich musste hier weg. Das war der einfachste und wohl logischste Weg. Vor dem Eingang zog ich rasch meine Sportschuhe an, nahm meine Handtasche und den Autoschlüssel mit und schlug ohne lang zu warten die Tür mit voller Wucht zu. Mit eiligen Schritten lief ich aus dem Haus raus und würdigte auch keinen Blick zurück auf das Haus. Ich wusste, dass Ercan mir hinter her rennen würde oder sogar mir hinterher fahren würde. Und mit dieser Hintergedanke, stieg ich in das Auto meiner Schwester ein und fuhr Vollgas ins Nirgendswo.

Nach einer halben Stunde parkte ich das Auto vor eine Picknickstelle, dass sich auf einem Berg befand und eine tolle Aussicht auf die Stadt besaß. Doch ich war immer noch wütend! Wie konnte Ercan mir mit so etwas ankommen?! ‚Entweder dein Verlobter oder dein Bruder!' Wie konnte man nur so selbstgierig sein? ‚Entscheide dich!' Eymen ist doch sein bester Freund? Warum reagiert er den so aggressiv seinem ‚Bruder' gegenüber? „Off!", seufzte ich genervt auf und schlug auf das Lenkrad. Überfordert griff ich nach meiner Zeichenmappe, die auf den Beifahrersitz unachtsam von mir geworfen wurde. Ich giff in meine weiße DIN A3 Mappe und nahm meine Zeichenblöcke raus, die in verschiedensten Größen vor mir auf dem Beifahrersitz ruhten. Mit einer gewissen Unsicherheit nahm ich meinen DIN A4 Zeichenblock zur Hand, griff noch nach meinem Mäppchen und stieg vorsichtig aus dem Auto aus. „Endlich!", flüsterte ich erleichtert und nahm Platz auf dem alten Holzbank und legte meinen Block auf den Tisch vor mir. Doch nun kam die geliebte Frage, was ich zeichnen sollte. Eymen? – Nein. Einen Tornado? – Nein. Die Landschaft? – Ja, denn wenigstens das könnte mich beruhigen.

Tief einatmend griff ich in mein überdimensionales, petrol gefärbtes Mäppchen, nahm daraus einen satten dunkelgrünen Holzstift zur Hand und setzte die Mine auf mein frisches, sauberes Blatt auf. ‚Entscheide dich!' Brr, was für ein Arschloch! Wütend kritzelte ich mit der dunkelgrünen Mine auf das frische Blatt, sodass die Mine unerwartet abbrach. „Das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein?!", schrie ich wütend meinen armen Holzstift an und schmiss es zornig auf die grüne Wiese. Ich konnte die Wut auf meinen Bruder bis auf meine Fingerkuppeln spüren und ich wusste einfach nicht, wie man den inneren Kampfhund zur Ruhe bringen konnte. Wütend betrachtete ich die wunderschöne Landschaft und konnte es immer noch nicht fassen, in was für eine Situation ich mich befand. Zornig riss ich das gekritzelte Blatt aus meinem Block gewaltsam raus, zerknüllte es zu einem Ball und warf es ohne Acht auf die Wiese.

Nun saß ich seit gefühlten zwanzig Minuten auf der alten, vermoosten Holzbank, ohne irgendetwas Produktives gemacht zu haben. ‚Ich werde Bade heiraten, Ercan!' Je mehr ich daran dachte, wie Eymen zu mir und unserer Beziehung stand, desto mehr gelang es mir, mich endlich zu beruhigen. ‚Bade, ich liebe dich' Das war sein Geständnis am Frühstückstisch, wie süß er es doch ausgesprochen hatte. ‚Willst du mich heiraten?' Ein Lächeln huschte auf meinen schmalen Lippen. ‚Badem' Das war mein Kosename von Eymen, der mir jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut verpasste. Ich zog meinen Diamantenring aus und betrachtete ihn, wie am ersten Tag. Die Gravur katapultierte mich zurück an meinen Antragsabend und ich spürte schon das Ziehen an meinen Wangen. Erstaunt blickte ich auf mein Handy und überprüfte das Datum. Augenblicklich fing ich an zu grinsen und stellte verwundert fest, dass Eymen und ich seit über ein halbes Jahr ein Paar waren. Seit einem halben Jahr verlobt waren. Seit einem halben Jahr die Liebe zu einander spüren durften. Immernoch aus der Fassung legte ich meine Hände auf meine Stirn. Wie schnell die Zeit von uns ging. Etwas beruhigt zog ich den Ring wieder an und hob meinen Holzstift von der Wiese auf. Ich griff nochmal in mein Mäppchen, fischte mir meinen Glücksbringer-Bleistift in der Stärke 3B raus und setzte die Mine beruhigt auf ein neues, frisches DIN A4 Blatt auf. Dieses Mal wollte ich nicht die Landschaft zeichnen, sondern mein Brautkleid. Mein Traumkleid. Mein Kleid, mit dem ich voller Stolz durch den Saal laufen wollte.

Als ich mit dem groben Entwurf fertig war, schielte ich auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass es Zeit war sich auf den Heimweg bereit zu machen. Genervt packte ich meine ganzen Utensilien zusammen und lief mit langsamen Schritten auf das Auto zu. Kaum saß ich auf dem Fahrersitz, knurrte mein Magen. Mit einem Grinsen schaltete ich mein Handy wieder ein, den ich davor ausgeschaltet hatte, und sah mehrere unbeantwortete Anrufe sowie Nachrichten. Genervt warf ich mein Handy gelangweilt auf den Beifahrersitz und schaltete den Motor meines Wagens an. Ich nahm Umwege, um so spät wie möglich zu Hause anzukommen. Ich hatte weder Lust auf die Standpauke von meiner Mutter, sowie etliche Entschuldigungen von meinem Bruder. Ich wollte einfach meine Ruhe haben und vor allem mir eine Auszeit von dem ganzen Stress gönnen. Ich fuhr eine ganze Stunde durch die dunklen Straßen. Mittlerweile schlug die Uhr gegen dreiundzwanzig Uhr und ich fühlte die Freiheit in mir kribbeln.

„Wo warst du?!", schrie mich meine Mutter an, als ich meine Tasche auf die Kommode abstellte. „Draußen?", antwortete ich ihr gelangweilt und lief auf mein Zimmer zu. „Bade komm sofort her!", rief sie hinter meinem Rücken her, während ich die Tür einfach zu schlug.

Tage verstrichen und ich ignorierte Ercan. Auch wenn es sehr weh tat, den eigenen Bruder im Haus zu Ignorieren, musste ich ihm einfach zeigen, wie verletzt ich eigentlich war.

„Warum ignorierst du Ercan?" Ich sah stur auf den Garten meiner Mutter und schlürfte genüsslich aus meiner Tasse meinen warmen Tee. „Weil ich Lust drauf hab", log ich Eymen an, der neben mir in seinem Anzug saß. „Du begehst einen riesen Fehler, Bade", versuchte Eymen mir die Lage zu verdeutlichen. Mit einem Kichern stellte ich die Tasse auf den Boden ab und sah zu ihm rüber. „Er hat einen riesen Fehler begangen, Eymen. Er ist zwar mein Bruder, aber mich bewusst in so eine Zwickmühle zu schubsen, habe ich definitiv nicht verdient!" – „Message ist angekommen, Frau Özbay. Lass uns jetzt mal über unsere Hochzeit reden. Zum Beispiel wann wollen wir jetzt in die Türkei reisen?", lenkte er das Thema geschickt in eine andere Richtung und schloss mich in seine starken Arme ein. „Die wichtigste Frage ist wohl, wann unsere Hochzeit stattfindet, Herr Özbay" – „Von mir aus, schon nächste Woche", scherzte er lachend und bekam von mir ein Zwicken in den Brustbereich. „Aua, dass hat aber weh getan" Sein Lachen hallte auf der ganzen Terrasse und ich hörte ihn zum ersten Mal so innig Lachen. Erstaunt lauschte ich seinem Brustkorb und gab keinen Mucks von mir. Als er sich nach einer Ewigkeit beruhigt hatte, streichelte er meine Haare und hauchte leichte Küsse auf diese. Ich hatte mich schon seit langem nach seiner Geborgenheit gesehnt gehabt und nun hatte ich Eymen auf meiner Seite.

Ich konnte es nicht begreifen, wie schnell die Zeit verging. Es verflog so schnell, dass Eymen und ich uns schon für den Lokal Ausschau hielten. Da die Hochzeit im Winter stattfinden sollte, musste ich mich schon von paar Wünschen verabschieden. Beispielsweise wollte ich meine Hochzeit auf einer schönen, großen Wiese in der freien Natur feiern, doch leider musste ich mich von meinen schönen Vorstellungen verabschieden und realistisch denken. Leider.

[...]

„Musst du unbedingt hier bleiben?", fragte ich Eymen enttäuscht. „Leider ja, Badem" Ich rollte meine Augen und hoffte innerlich, dass Eymen zur letzten Sekunde doch noch mit in die Türkei fliegen würde. Doch das blieb auch bei der Hoffnung.

Zwei ganze Wochen ohne Eymen. Auch wenn diese Reise für unsere Hochzeit organisiert wurde, wollte ich ohne Eymen nirgendswohin gehen. Meine Mutter, sowie Tante Zühal kamen mit und somit waren wir insgesamt drei Frauen, die in der Türkei frei shoppen konnten.

Der Entwurf meines Brautkleides stand fest, sowie meines Hennakleides. Die To-Do Liste stand ebenfalls fest und vereinfachte uns das Einkaufen in Istanbul. „Ich werde dich vermissen", offenbarte ich ihm meine Gefühle und griff nach seiner Hand. „Ich dich auch, Badem" Dabei zog er mich in seine Arme und streichelte meine Haare. „Eymen, Cihan kommt gleich auch" Verwirrt blickte ich meinen Bruder an, der etwas abseits neben uns stand. „Wer ist Cihan?", fragte ich Eymen, der stocksteif vor mir stand und keinen Mucks von sich gab. Ich wiederholte meine Frage nochmal, den einen Cihan kannte ich nicht. „Ah da ist er ja auch schon", sprach Ercan laut aus und stiehl somit meine ganze Aufmerksamkeit. Ich blickte in die Menschenmenge, die auf den Eingang zuliefen und konnte auch keinen erkennen, bis Ercan auf einen Jungen zu lief. Etwas irritiert blickte ich zu Eymen, der nervös seinen Nacken kratzte und mir schlechte Gefühle ausstrahlte. „Da ist auch meine Schwester", hörte ich Ercan reden und ich widmete meine volle Aufmerksamkeit wieder meinem Bruder. Und als ich die braunen Augen sah, verschwand mein Lächeln augenblicklich. 

Ohne Dich.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt