.15 - Familienkrise

3.6K 171 20
                                    

„Ach Gott! Hallo ihr Zwei!", begrüßte sie uns sichtlich überrascht, stand aus ihrem drehbaren Stuhl auf und reichte uns ihre Hand. Ich verdrehte innerlich die Augen, musste ich sie jetzt und hier sehen? „Was führt den euch hier her?", fuhr sie fort, nachdem ich ihre Hand als Letzte geschüttelt hatte und vor ihrem Schreibtisch auf den hellen, gepolsterten Holzstühlen platz nahmen. „Wir wollten uns über die standesamtliche Trauung schlau machen", sprach Eymen sehr ruhig seinen Satz aus, griff nach meiner rechten Hand und lächelte mich mit seinen wunderschönen Grübchen an. Ich hingegen wippte mit meinem rechten Bein, den ich davor auf das linke Bein überschlagen hatte, nervös vor und zurück. Es war eine sehr unangenehme Situation und ich wollte einfach nur von dort wegfliehen. Ich verstand nicht, wie Eymen so locker auf das Thema eingehen konnte. Immerhin saß vor ihm die damalige potentielle Ehepartnerin. „Ach bei euch ist es schon so weit?", hörte ich ihre erfreute Stimme und wunderte mich, dass sie sich nicht genauso wie ich, unangenehm fühlte. Immerhin saß vor ihr der damalige potentieller Ehepartner.

„Ich freue mich für euch Zwei wirklich sehr, dass es bei euch demnächst soweit ist! Es war schön euch hier anzutreffen", teilte sie ihre Gedanken uns mit, nachdem sie uns über reichlich informiert hatte. Ob ich dieselben Gedanken hätte, wenn ich an ihrer Stelle wäre? – Nein. Dafür liebe ich Eymen zu sehr. Ich wäre wohl, bei so einer unangenehmen Situation vor Nervosität gestorben. Wir liefen händchenhaltend aus dem Rathaus raus und latschen die wenigen Meter zum Parkhaus.

„Ein kranker Zufall, dass wir Minel hier angetroffen haben, findest du nicht?", sprach ich unmotiviert meine Gedanken laut aus, während wir die schmale Straße überquerten und ergatterte ungewollt fragwürdige Blicke von Eymen. „Ich mein, sie wäre jetzt vielleicht an meiner Stelle.. An deiner Seite.", murmelte ich eher zu mir selbst und beobachtete die Pflastersteine unter mir vorbeisausen. Wir liefen die engen Straßen Hand in Hand durch. Keine Menschenseele war hier um diese Uhrzeit zu finden. Ich versuchte tief einatmend mich zu beruhigen. Mich unter Kontrolle zu halten. Dieses Gefühl etwas Falsches gemacht zu haben, blühte nach Monaten wieder auf. Und es fühlte sich scheußlich an. Mein kleines Herz pochte zu schnell und ich spürte meine Adern zum Platzen nahe. Dies musste ich wohl mit meinem Gesichtsausdruck ausgestrahlt haben, denn Eymen griff unerwartet mich an meinem Arm zurück. „Was ist passiert Bade?", hörte ich ihn besorgt fragen, während er mir tröstend über meine Wange strich. Ich sah stur auf den Boden, den ich hatte die Kraft nicht, ihm in die Augen zu schauen. Er wäre jetzt mit ihr hier. Er wäre jetzt mit ihr verlobt. Er würde jetzt mit ihr Hochzeitspläne durchbesprechen. Schuldgefühle übten gewaltsame Peitschen auf mein kleines Herz. Hatte Minel so etwas verdient? Sie lernt den potentiellen Ehemann kennen und erfährt am selben Tag von ihm, dass er eine andere Frau liebt und sogar mit ihr in einer Beziehung sei, von der die beiden Familien aber nichts wissen würden. Doch was Minel auch nicht wusste, dass die betroffene Person ebenso nichts wusste. Die geliebte Frau, die nichts ahnend eifersüchtig die Beiden aus dem benachbartem Tisch beobachtet hatte.

„Schau mir in die Augen, Schatz", befahl Eymen und hob mit seinem Zeigefinger meinen Kinn hoch. „Mir geht es nicht so gut, Eymen. Habe wieder diese starken Kopfschmerzen", log ich ihn an. Er betastete behutsam meine Stirn und nickte zustimmend, nachdem er mir einen schnellen Kuss auf meine Schläfe hinterließ.

Nach einer zwanzigminütigen Fahrt, hielt Eymen vor meinem Haus an und sah mich weiterhin besorgt an. Ich hingegen hatte die ganze Fahrt lang meinen Kopf auf die Kopfstützte gelegt und versuchte vergeblich zu schlafen. „Badem, geht es dir besser?", begann er zu sprechen und legte vorsichtig seine Handfläche nochmals auf meine Stirn. Ich schüttelte meinen Kopf verneinend und betrachtete sein wunderschönes Gesicht. „Ich liebe dich, das weißt du, oder?", krächzte ich, während ich seine Hand aus meiner Stirn nahm und einen Kuss auf die Handinnenfläche hauchte. Er fing an zu lächeln und griff nach meiner Hand. „Ja, ich weiß und schätze es sehr", erwiderte er lächelnd , bevor er diesmal auf meinen Handrücken einen leichten Kuss hinterließ. Ich lächelte schwach auf. „Ich komme nach der Arbeit zu euch, ok?", informierte mich mein Verlobter. Ich schluckte auf. Mit einem zustimmenden Nicken, stieg ich aus dem Auto aus.

„Bade, Eymen ist gekommen", teilte Eylül mir mit, während ich in der Küche meinen geliebten Schokokuchen aus dem Backofen nahm und ihn zum Abkühlen auf die Arbeitsplatte legte. Ich seufzte nervös auf und lief auf die Küchentür zu, bis ich mich kurzfristig dagegen entschloss und wieder zurück zur Küchenzeile lief. Ich blieb wahrscheinlich etwas länger als erwartet, sodass Eylül die Küche betrat und mich verwirrt ansah. „Ist etwas passiert?", hörte ich sie besorgt fragen, während sie die Distanz zwischen uns in wenigen Schritten verringerte. Ich lächelte sie schwach an. Wenn du nur wüsstest, Schwesterherz.Ich schüttelte mit dem Kopf. „Los lass uns rein gehen", hörte ich sie sagen, sodass ich gezwungenerweise ihr folgte. Gemeinsam liefen wir ins Wohnzimmer und traf außer Eymen noch meine Schwiegereltern. Ich begrüßte sie höflich und nahm sogleich neben Eymen auf dem zweier Sofa platz, sodass wir unsere Familien gegenüber saßen. Eymen hielt sogleich motivierend meine Hand und sahen uns sekundenlang in die Augen, bis er sein Kopf unseren Eltern widmete. „Wir haben eine Neuigkeit für euch!", brachte Eymen den Anwesenden die Neugier auf das doppelte, die uns nur noch ungeduldig ansahen. Ercan wippte ungeduldig mit dem Bein. „Schieß doch jetzt endlich los!", fuhr mein Bruder meinen Verlobten genervt an. Eymen sah mich zuletzt grinsend an, bevor er sich wieder zu unserer Familie widmete. „Wir haben uns entschlossen, noch dieses Jahr zu heiraten!", ließ ich die Wörter nervös fallen. „Was?!", rief Ercan augenblicklich entsetzt aus und jagte mir einen Schrecken ein. Nicht nur mir, sondern allen Anwesenden im Wohnzimmer. Ich drückte Eymens Hand stärker, ich zerquetsche es wortwörtlich. Ich hatte Angst, was für eine Reaktion Ercan weiter zeigen könnte. Er war gegen die Hochzeit, dass war mir klar. Aber seine Schwester ist nur glücklich mit Eymen, warum will er das nicht verstehen? „Eymen kannst du mal kurz in mein Zimmer kommen?!", bittete Ercan Eymen streng, doch man konnte seinen Wut gut heraushören. Mein armer Verlobter gab mir einen Kuss auf die Schläfe, bevor er aufstand und Ercan in sein Zimmer folgte. Ich schielte peinlich berührt zu meiner Mutter, die still aus dem Fenster sah. Ich spürte augenblicklich ein Stechen in meinem Herzen. Das Gefühl, nicht zu wissen, was in ihr abging, war wirklich unerträglich. Doch als das nicht reichen würde, hörte ich schon gleich darauf die erhöhte Stimmoktave meines Bruders aus dem Zimmer. Ich seuftze auf. Das würde eine lange Nacht werden.

„Ich verbiete es!", schrie Ercan nun außer sich. „Warum reagiert Ercan den so?", fragte Tante Zühal in die Runde. Doch außer ein Schulterzucken kam keinerlei Antwort auf ihre Frage. „Bade ist seine jüngere Schwester. Und er ist ja auch noch der ‚Herr' im Haus. Ich glaub, deswegen reagiert er auch so allergisch auf das Thema", äußerte Onkel Necati seine Gedanken. „Ich werde Bade heiraten, Ercan!", nahm ich Eymens Stimme aus dem benachbartem Zimmer schreien. Meine Stimmung war im Eimer. Zwei wichtige Personen in meinem Leben stritten sich meinetwegen. Und weswegen? Weil sie mich nicht teilen konnten. Doch ich war doch kein Gegenstand, den man teilen konnte! Nisa strich meine Haare aus dem Gesicht und gab mir den Halt, den ich in dem Moment nötig hatte. „Alles wird gut", flüsterte meine zweitältere Schwester mir zu. Ich lächelte sie verbittert an. „Ich verbiete es!", hörte ich Ercan schreiend seine Sätze wiederholen. Meine Augen wurden vor Trauer so glasig, dass sie jeden Moment aus ihnen treten konnte. So stand ich abrupt aus dem Sofa auf und lief mit voller Elan in Ercans Zimmer. Ich verstand einfach nicht, was das Problem war. Ich blieb doch weiterhin die Schwester von Ercan? Ohne lang zu überlegen, riss ich die Tür weit auf und erblickte die eins besten Freunde an den Kragen vom jeweiligen kleben. Ich schnaubte schwer nach Luft. „Was macht ihr da?!", schrie ich nun auf und lief sofort auf sie zu. „Bade geh raus!", rief mein Bruder und wagte es nochmal auf seinen besten Freund zu laufen. „Was ist dein Problem?!", rief ich meinen Bruder nach Jahren wieder an und sah ihn wütend an. „Was mein Problem ist?", er fing an zu lachen und wandte seinen Rücken zu mir um. „Sag du mir, wer ich bin? Was für eine Rolle spiele ich in deinem Leben? Bin ich ein Fremder oder dein Bruder?", keuchte er wütend und blickte sogleich zu meinem Verlobten. „Wer bin ich, sag du es mir Bruder!" Dabei betonte er das Wort Bruder so sehr, dass es in mir brannte. „Willst du so sehr, von uns weggehen?", richtete er sich wieder an mich und ich verstand augenblicklich, was ihn störte. Verdutzt sah ich ihn an. Hatte ich ihm das Gefühl gegeben, dass ich so schnell wie möglich weg aus meinem Elternhaus ausziehen wollte? Ich schluckte schwer den Kloß runter und grübelte nach, mit welchen Wörtern ich ihn besänftigen könnte. Doch bevor ich überhaupt die Möglichkeit zum Denken hatte, hörte ich meinen Bruder schmerzhaft auflachen.

„Weißt du was; Entscheide dich! Jetzt und hier! Entweder dein Verlobter oder dein Bruder!", hörte ich Ercan zornig rufen. Ich blickte meinen Bruder erschrocken an. Er durfte doch nicht im Ernst mich auffordern, zu entscheiden? Zwischen zwei wichtigen Personen in meinem Leben soll ich jetzt entscheiden? War das fair?

Ohne Dich.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt