.22 - Brandmal

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Erschrocken stand ich angewurzelt am Türrahmen und beobachtete jeden seiner Schritte. Er stieg lächelnd die wenigen Stufen auf und streckte mir ganz gelassen die Hand entgegen. Überrascht zögerte ich etwas, bis ich die Blicke auf mir ruhen spürte. Ich schluckte den Speichel runter und streckte zitternd meine Hand entgegen. „Erdal", raunt seine Stimme durch das Treppenhaus. Sein Blick war so intensiv, dass es in mir schon ein unangenehmes Gefühl ausbreitete. „B-bade", stotterte ich immernoch benommen und zog sogleich meine Hand weg. „Kommt doch rein!", lud Eymen die beiden in die Wohnung ein, nachdem er seine Cousine Sinem umarmt hatte. „Geht schon mal vor ins Wohnzimmer. Ich schenke uns den Tee ein", informierte ich Eymen beiläufig und begab mich sogleich mit zitternden Schritten in die Küche.

Nervös lief ich in der Küche auf und ab. Was war das für ein blöder Zufall? Der Sohn meines Vaters saß in meiner Wohnung. Das Kind von einer anderen Frau. Sie waren der Grund für die Zerstörung meiner Familie. Für die große Explodierung aller Verwandtschaften unserer Familie. „Das ist dein Sohn!", ertönte die Stimme der billigen Frau in meinen Ohren wieder und schon ließ ich mich in die Vergangenheit irren. Das Bild, wie sie mit ihm vor unserer Haustüre nach meinem Vater gefragt hatten, ging mir nicht aus den Augen. Wie sie voller stolz auf Erdal deutete und meiner Mutter mitteilte, dass er der Sohn meines Vaters sei. Und doch war es so erbärmlich.

„Schatz?", rief Eymen aus dem Wohnzimmer und riss mich unbewusst aus meinem Albtraum wieder zurück. „Ich komme schon!", entgegnete ich hysterisch. Mit zitternden Händen nahm ich die große weiße Servierplatte in meine Hände und lief mit langsamen Schritten ins Wohnzimmer.

„Und wann findet die Hochzeit statt?", fragte Eymen verwirrt, als ich ins Zimmer eintrat. „Höchstwahrscheinlich in sechs Monaten. Wenn natürlich alles gut klappt", beantwortete Eymens Cousine Sinem seine Frage und sah beschämt auf den Boden. „Schon ein bisschen früh, ne?" Ich nahm neben meinem Mann platz und saß vor dem jungem Paar.

Die durchbohrenden Blicke von ihrem Freund waren auf mir wie scharfe Messerklingen, die mehrmals gewaltsam in mein Leib rein und raus gerammt wurden. Ich saß verkrampft neben Eymen und sah permanent auf mein Glas. Wie unheimlich die Situation einfach war. Mein sogenannter Halbbruder saß vor mir. Und das wusste keiner. Nicht mal Eymen. Es war schon unangenehm genug zu erfahren, dass er hier mit seiner Familie wohnt. Hier in der selben Stadt. Ich sah ihn definitiv nicht als Teil meiner Familie an. Erst recht nicht, wenn er auch noch mit der Cousine meines Mannes heiraten sollte.

Die Minuten liefen wie alte Schnecken vor sich hin und ich wollte so schnell wie möglich aus diesem schrecklichen Albtraum aufwachen. „Und wie lange seid ihr verheiratet?", fragte nun Sinems Freund Erdal in die Runde. Dabei sah er mich so auffordern an. So als wolle er die Antwort von mir hören. Doch ich blieb wie davor schon auch, unbeteiligt am Thema. „Seit ungefähr drei Monaten", beantwortete Eymen hingegen mit einem Lächeln seine Frage und ließ seine Hand auf meinem Oberschenkel ruhen. Ich wandte mich zu Eymen und erwiderte sogleich seinem Blick.

[..]

Als sie sich endlich verabschiedet hatten, ging Eymen duschen, während ich das Wohnzimmer aufräumte. Meine Hände zitterten immer noch wie wild und doch wusste ich nicht, wie ich mit dieser Situation am Besten umgehen sollte. Ich kam mit einem nassen Lappen zurück ins Wohnzimmer und wusch den hölzernen Couchtisch sauber. Dabei fiel mir die beige Verlobungseinladung auf den weißen, flauschigen Teppich. Man konnte die Namen des Paares deutlich ohne Probleme durch die schwarze Farbe erkennen.

Sinem & Erdal

Aufseufzend hob ich die Einladung auf und ließ mich auf das große Sofa nieder. Ich konnte schon erahnen, was mich hinter dieser Einladung erwartete, doch ich wollte mir dies nicht eingestehen. Die Angst, nochmal durch meinen Vater verletzt zu werden war groß. Und der Rückblick an meinen Hochzeitstag genügte ebenso, dass in mir sich das lodernde Feuer entfachte und meine Augen anfingen zu brennen. Ich hätte es nicht gedacht, dass die fehlende Anwesenheit meines Vaters an meinem glücklichsten Tag mich so mitgenommen hätte. Doch zu Liebe meiner Mutter, tat ich das, was nun mal Richtig war. Vergessen und lächeln. Doch nun sehe ich, dass man von den Problemen nicht so leicht wegrennen kann. Ich strich sachte mit meinem Finger über die Namen des Paares und grübelte nach, wie es auf dieser Verlobungsfeier verlaufen würde. Ich malte mir aus, wie ich selbstsicher den Saal betrat und wie die missbilligte Frau mich überfordert ansah. Ich lächelte schwach auf und öffnete mit langsamen Bewegungen die Einladung. Ich überflog den Text und erkannte erschrocken die Erwähnung der Eltern des Bräutigams.

Gökhan & Meryem Gürmen

Ein Schauer lief mir am Rücken und ich klappte sogleich die Einladung zu. Schluchzend hielt ich mir meine rechte Hand vor meinen Mund und versuchte mich zu beruhigen. Doch das gelang mir nicht wirklich. Schluchzend ließ ich die kommenden Tränen fließen. Die Tatsache, dass mein Vater uns endgültig aufgegeben hatte und seine neue, glückliche Familie gegründet hatte, traf mich überraschend sehr. Die Tatsache, dass er tatsächlich diese Frau zu seiner Ehefrau genommen hatte, nahm mich in einen wirbelnden Sturm mit. Meine Tränen kannten nun keine Grenzen mehr. Sie liefen wie kleine Regentropfen auf meine brennenden Wangen runter. 

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Kleiner Info: Die Situation mit dem Vater und Halbbruder ist auf wahre Begebenheit.. 

Daher würde es mich brennend interessieren, wie ihr an Bade's Stelle reagiert hättet


xoxo neselii :*

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Ohne Dich.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt