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Nachdem ich am nächsten Tag in meiner Wohnung aufwachte und um mich sah, konnte ich nichts mehr realisieren. Ich konnte mir mein altes Leben nicht mehr vorstellen, wie ich mal gelebt hatte. Ich hatte sozusagen die guten Erinnerungen ungewollt aus meinem Kopf gebannt. Ich war zu dieser Zeit depressiv. Ich war psychisch labil, aber ich wusste es damals nicht. Was erwartete man auch, wenn man zwangsverheiratet wurde, und jeden Tag misshandelt und vergewaltigt wurde. Dass man nach der Flucht wieder ein normales Leben führen könnte? Nie im Leben! Ich war innerlich tot, bemerkte es aber noch nicht. Ich war verfangen in meinen Gedanken an Denian. Der einzige Grund weshalb ich alles überlebte. Ich hatte die Realität verloren.
Es war ein Wunder, dass ich diese Nacht ruhig und ohne Träume schlief. Vermutlich machte mich einfach die ganze Situation müde und ich war eben in meinem Zuhause, wo man sich geborgen fühlte. Aber kaum wachte ich auf, gab mir die Realität einen Schlag ins Gesicht.
Ich war aufgestanden und ging ins Bad um mich zu duschen. In meiner Schublade im Bad waren noch immer meine Kosmetik Sachen. All meine Sachen waren da wo sie sein sollten. Also waren meine Eltern nicht nach Düsseldorf gekommen, um in meiner Wohnung zu stöbern. Ich seufzte. Ich wollte nichts mehr mit meinen Eltern zu tun haben. Ich konnte ihnen nicht verzeihen, jetzt noch nicht.
Als ich die Kosmetik Sachen ansah und mich dann im Spiegel betrachtete, hatte ich das Bedürfnis, mich nach langer Zeit wieder schön zu machen. Meine Schnittwunde im Gesicht, würde eindeutig eine lebenslange Narbe werden. Ich schminkte mich leicht, ein wenig Kayal und Wimpertusche, das reichte, um meine grauen Augen zu betonen. Ich föhnte meine Haare und glättete sie anschließend. Ich lies sie offen nach hinten fallen. Sie waren lang geworden. Ich blickte mir wieder ins Gesicht und versuchte zu lächeln. Ich versuchte die schlimme Zeit zu überspringen. Als wäre es nie passiert. Heute weiß ich, ich hatte einen Realitätsverlust und war mir nicht mal klar, dass ich ich bin.
Ich ging in mein Zimmer und suchte nach Klamotten, auch hier war alles unberührt. Ich öffnete die Schranktüre und blickte hinein. Nie wieder mehr eine Burka tragen müssen, dachte ich und lächelte. Nie wieder mehr Mohammed.
Im Kühlschrank gab es nichts mehr essbares. Alles war bereits verdorben. Also beschloss ich alleine in die Stadt zu gehen, um dort etwas zu essen. Ich nahm die Autoschlüssel meiner Eltern und fuhr in die Stadt. Mir war heiß. Ich wusste nicht, ob es an der Temperatur lag oder viel mehr daran, noch immer in Angst zu leben. Als ich in der Stadt war, hatte ich schließlich doch keinen großen Hunger mehr. Ich wollte oder konnte nichts essen. Ich wollte aber nicht nach Hause, ich musste zu Dorentina, mit ihre reden. Unbedingt. Ich fuhr Richtung Stadtzentrum, denn dort wohnte sie. Als ich im Temposchritt vorwärts kam und in einem Cafe draußen Halil sah, bremste ich aus Reflex und der Fahrer hinter mir huppte wie verrückt. "Ist ja schon gut!" sagte ich mehr zu mir selbst und fuhr wieder weiter. Ich parkte in der Nähe des Cafes, lies mir keinen Parkschein ausdrucken, denn das war für mich nun wirklich das kleinste Problem. Mein Auto war es eh nicht. Ich lief über die Straße zu dem Cafe, in dem gerade noch Halil war. Doch ich sah ihn nicht mehr. Ich blickte mich um und entdeckte ihn gerade mit zwei seiner Freunde laufen. Ich musste zu ihm. Ich rannte förmlich, als ob ich wieder auf der Flucht wäre und als ich Halils Schulter von hinten packte, drehte er sich wütend um. "Was soll-" er stockte als er mich sah. "Tereza."
Seine Freunde blickten zu uns. "Halil, ich -" Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich hatte keine Ahnung warum ich ihm hinterhergerannt war, aber er war nun mal der erste, den ich sah. Ich schluckte die Tränen runter. "Wo warst du?" fragte ich und schaute ihm in seine Augen.
Halil schluckte schwer. Er wandte sich zu seinen Freunden. "Geht ihr schon mal vor."
Halil nahm meine Hand und ich wollte mich an ihn drücken. Ich brauchte unbedingt wahre Nähe. Aber ich hielt mich zurück. Aus Angst, ich würde ihn verlieren. Halil zog mich in das Cafe, nach innen in die letzte Ecke. "Wo warst du?" fragte ich wieder. Und er strich sich übers Gesicht. "Tereza, bitte, lass mich dich umarmen." Ich wollte ihn auch umarmen, aber konnte nicht.
"Wo warst du, als ich dich am meisten gebraucht habe, Halil. Wo warst du?" Ich versuchte stark zu bleiben. Ich wollte wissen, warum er sich nicht auf die Suche gemacht hat.
"Es tut mir leid", sagte er. "Aber wo warst du, Tereza?"
Natürlich, er wusste von nichts. "Du hast mich nicht gesucht?" fragte ich.
"Selbstverständlich habe ich dich gesucht! Ich war bis nach Stuttgart gegangen, habe deine Eltern aufgesucht, aber sie wussten selbst nicht. Ich war bei der Polizei, verdammt noch mal Tereza. Ich habe es nicht ausgehalten. Ich habe mir so Sorgen gemacht. Ich dachte wirklich schon, du wärst... Du wärst verunglückt."
Ich schaute Halil in die Augen und nahm seine aufrichtigen Worte auf.
"Ich war in meiner Heimat." sagte ich nur dazu. Ich erzählte ihm nur von der Zwangsheirat und der Flucht. Die Vergewaltigungen wollte ich nicht erwähnen, ich schämte mich noch zu sehr jemand Vertrautem darüber zu erzählen. Ich fühlte mich wie eine schmutzige Nutte.
Nach dem langen Gespräch, mit zwei Gläsern Wasser in der Hand und salzigen Tränen in den Augen, rückte Halil mit seinem Stuhl zu mir und umarmte mich. Er umarmte mich so fest, dass ich mich einfach geborgen fühlte. "Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, Tereza. Ich habe dich so vermisst. Ich war am verzweifeln." flüsterte er in mein Ohr, während meine Augen geschlossen waren und meine Arme seinen Körper umschlangen. Ich löste mich langsam von ihm. "Weißt du wo Denian ist?" fragte ich ihn und er schüttelte den Kopf.
"Ich habe ihn vor Monaten zuletzt gesehen. Ich habe gehört, er war im Krankenhaus. Er wurde zusammengeschlagen, oder sowas. Ich denke mal, das hatte dann wohl einen Zusammenhang mit dir." Klar. Meine Eltern hatten wohl irgendwelche Menschen angeheuert, Denian eine auszuwischen. Denian hatte auch gelitten.
Wieso ist Liebe in dieser Hinsicht eine Strafe?
"Ich muss ihn unbedingt sehen." sagte ich leise und Halil strich mir die geglätteten Strähnen aus dem Gesicht.
"Ich kann mir vorstellen, dass du Sehnsucht nach ihm hast." sagte Halil. "Tereza. Ich will dir nichts vorwerfen, aber ich hatte dir schon von anfang an gesagt, du solltest mit ihm aufpassen."
Ich seufzte leicht. "Ich wusste ja nicht, dass die Situation in so eine Richtung gelenkt wird."
"Ich denke es ist besser, wenn du von Denian Abstand hälst."
"Ich kann aber nicht." sagte ich und lehnte mich zurück. "Ich kann es einfach nicht." Ich wollte Denian um jeden Preis wiedersehen.

Nicht ohne DichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt