Ich atmete tief ein, denn ich musste mich beruhigen. Ich hatte mich einfach noch nicht an das Stehlen gewöhnt und jedes Mal, obschon ich nur daran dachte oder mich vorbereiten musste, wurde ich nervös. Dann kam noch dazu, dass ich Stehlen einfach über alles hasste. Dafür war ich eindeutig zu stolz und zu gut erzogen. Vor einem Jahr hatte ich die Kinder auf den Straßen noch missachtet und hatte sogar manches Mal über sie geflucht. Ironischer Weise war ich nun in derselben Situation wie diese Kinder damals. Zusammen mit meinem Zwillingsbruder Konnor war ich gezwungen gewesen, nach Mutters Tod einen Ausweg aus der finanziellen Notlage zu finden und als Bauerkinder hatten wir uns geweigert, getrennt für andere Leute arbeiten zu gehen. Da Mutter vor ihrem Tod verschuldet gewesen war, war der Hof uns Geschwistern weggenommen worden und wir mussten uns seither auf den Straßen Behrdorfs zurechtfinden. Wir hatten keine andere Wahl gehabt als uns der Kinderbande auf der Straße anzuschließen und uns unser tägliches Brot durch Stehlen zu beschaffen. Zuerst hatte uns die Bande zu meinem großen Missfallen nicht aufnehmen wollen. Aber als Konnor sich als talentierter Taschendieb erwiesen hatte, waren wir schließlich beide doch mit offenen Armen empfangen worden. Ich war im Gegensatz zu Konnor jedoch schlecht im Stehlen. Das hatte sich ebenfalls sehr früh herausgestellt. Ich war ungeschickt und nervös. Zwar konnte ich sehr schnell rennen und auch gut klettern, sodass mich noch nie jemand fassen konnte, aber mein leuchtend rotes Haar war viel zu auffällig auf der Straße. Anfangs hatte Konnor dasselbe Problem, bis er sich eines Tages eine Mütze geklaut hatte und so sein feuerrotes Haar unsichtbar werden liess.Ich rückte meinen Hut zurecht. Heute war der erste Tag an dem ich dasselbe versuchen wollte. Diesen Hut hatte ich mir selbst von einem Arbeiter besorgt. Er war zwar ein bisschen zu groß und rutschte mir immer wieder vor die Augen, aber mit meinem langen, unter dem Hut zusammengebundenen Haar, den Hosen und dem mottenzerfressenden Hemd erhielten die Leute sicher den Eindruck, einen hageren Jungen vor sich zu haben. Das verschaffte mir sicher auch einen Vorteil, weil ich wusste, dass gefasste Mädchen aus der Bande als Dienstmädchen in irgendeiner Küche enden würden. Gefasste Jungs kehrten im schlimmsten Fall verprügelt zur Bande zurück. Zwar verprügelt, aber sie kamen immer zurück. Und ich wollte auf jeden Fall nicht von meinem Bruder Konnor getrennt werden. Daher fühlte ich mich als Junge sicherer auf der Straße.
„Bist du bereit?", wurde ich von Konnor aus den Gedanken gezogen. Wir hatten uns am Vorabend in der Hütte der Bande zusammen eine Strategie ausgedacht, mit der wir auf dem Mark am meisten Erfolg haben würden. Es war Samstag und der wöchentliche Markt lockte immer die reichsten Leute der Umgebung an. „Ja, ich glaub schon", antwortete ich meinem Bruder. „Beruhige dich, es wird schon alles gut laufen. Außerdem bin ich heute dein Partner und nicht diese doofe Linda" sagte Konnor mit einem Grinsen. Das war wirklich beruhigend, denn Konnor war der beste Partner, den man sich nur wünschen konnte. Nie würde er seine Schwester - also mich - im Stich lassen.
Wir liefen beide durch die kleinen Gassen von Behrdorf und kamen beim Marktplatz an, drängten uns durch die Menschenmenge und schlängelten uns zwischen den Ständen hindurch. Dabei ließen wir beide die Finger spielen. Nach fünfzehn Minuten hatte ich mir drei Münztaschen besorgt, Konnor hatte fünf geklaut. Wir huschten unauffällig aus dem Gedränge ins Dunkle der kleinen Nebengasse zurück. „Das war ja ganz einfach!", meinte Konnor, „wie wäre es, wenn wir nun zur nächsten Stufe gehen würden?" Ich schluckte und nickte nur zur Antwort. Unser nächster Schritt war wesentlich schwieriger. Wir schlichen wieder unauffällig in die Menschenmenge hinein und hielten Ausschau nach der perfekten Beute. Reiche Adlige auf dem Markt in Behrdorf gab es fast nie zu sehen. Man konnte auch erkennen warum: Die schmutzigen Straßen, der Gestank und die vielen Waisenkinder, auf denen man auf der Straße häufiger antraf als Pferde, waren wohl für alle Grund genug, sich von Behrdorf fernzuhalten. Im Grund genommen war Behrdorf kein attraktiver Wohnplatz. Gewisse fragten sich immer wieder, wie sich eine einst prächtige Stadt in ein solch jämmerliches, von Gott verlassenes Dorf verwandeln konnte. Gewisse meinten immer wieder, dass der neue Graf der Behrdorf-Umgebung die Schuld dafür trug, da er in den letzten Jahren die Steuern verdoppelt und dabei die Bevölkerung ausgehungert hatte. Innerhalb von 10 Jahren hatten hunderte Familien dasselbe Schicksal wie ich und Konnor erleiden müssen und viele der Menschen hatten sich eine bessere Zukunft in anderen Ortschaften erhofft und das Dorf Behrdorf verlassen, das mit immer mehr Schmutz und Trauer überhäuft wurde. Wenn man konnte, wurde es heute daher gemieden, nach Behrdorf zu gehen und deswegen traf man auch so selten auf so viele Leute wie beim Markt. Ich erwartete deshalb auch gar nicht erst, einen Adligen zu sehen, den wir möglicherweise bestehlen konnten. Ich huschte dennoch von Stand zu Stand und als ich die missbilligenden Blicke der Verkäufer bemerkte, wurde ich rot. Natürlich kannte uns inzwischen jeder einzelner Verkäufer, die daher immer beide Augen besonders offen behielten. Brot oder sonstiges zu stehlen war also sinnlos und das wusste ich auch. Ich hatte es heute sowieso auf das Geld abgesehen. Ich ging weiter und blieb abrupt stehen. Fast wäre ich in zwei Männer, die mit den Rücken zu mir gedreht vor mir standen, hineingelaufen. Mir fielen sofort die beiden Schwerter an ihren Gürteln auf und mein Herz machte bei deren Anblick einen gehörigen Satz. Das konnte nur etwas bedeuten: Diese Männer waren Ritter. Nervös schlich ich also zurück in die Gasse. Was hatten zwei Ritter in Behrdorf zu suchen? Noch nie zuvor hatte ich hier Ritter gesehen. Dennoch hatte ich mir als kleines Kind immer vorgestellt, wie ein edler Ritter nur aussehen mochte. Ich hatte eine Rüstung ein Pferd und sogar Juwelen erwartet. Was ich aber gesehen hatte, enttäuschte mich schon fast. Die zwei Männer trugen nicht ein Mal wertvolle Kleider. Trotzdem musste ich Konnor wiederfinden und ihm Bescheid sagen. Ich musste eine Weile warten, bis ich Konnors Gestalt aus dem Gedränge auf mich zukommen sah."Und? Hast du eine interessante Beute gefunden?",fragte er. "Ja, beim Bäckerstand standen zwei Männer, die wie Ritter aussahen.", antwortete ich nervös. Konnor machte grosse Augen und hielt sofort nach diesen Männern Ausschau. "Echt jetzt? Wo?" "Dort, in der Ecke, der Blonde und der Dunkelhaarige. Du kannst ihre Schwerter sehen", flüsterte ich ungeduldig. "Glaubst du, wir sollten es riskieren?" fragte ich ihn zögerlich. Konnor strahlte übers ganze Gesicht. "Was glaubst du eigentlich? Kannst du dir vorstellen, wieviel Geld wir auf einen Schlag verdienen könnten? Wir könnten uns damit sicher irgendwo ein neues Haus kaufen!" Konnors Begeisterung war meiner Meinung nach schon fast zu übertrieben."Schön und gut, aber die zwei sehen nicht gerade so aus, als würden sie im Gold schwimmen", entgegnete ich. Trotzdem hatte ich das seltsame Gefühl, dass diese zwei Ritter etwas Besonderes waren und sie uns vielleicht sogar unser lange verlorenes Glück zurückbringen konnten. "Also gut", sagte ich schlussendlich, "versuchen wir's trotzdem!"
Wir gingen zurück zum Markt. Konnor würde die Ablenkung sein, während ich mich ans Werk machen würde. Konnor ging voraus und ging direkt zu den beiden Rittern hinüber. "Hallo, sehr geehrte Ritter!", fing er an. "Was für eine nette Überraschung! Es ist heutzutage sehr selten, Leute ihres Ranges hier zu sehen". Die beiden Männer drehten sich verwundert um. Zu meiner eigenen Überraschung waren beide noch recht jung, kaum älter als achtzehn und damit fast schon in unserem Alter. Der Dunkelhaarige war zwar gross, muskulös und stark gebaut, jedoch war klar an seinem kaum behaarten und gut aussehenden Gesicht zu erkennen, dass er noch zu wenige Narben hatte, um ein erfahrener Kämpfer zu sein. Sein Freund, der Blonde, war das klare Gegenteil: Er war kleiner und schlanker und er hatte nicht mal die Hälfte der Muskelmasse des anderen. Er sah mehr wie ein Knecht aus, der noch kein Schwert in der Hand halten konnte. Trotz seiner viel kleineren Statur fand ich den Blonden viel unheimlicher als den anderen. Ich konnte es mir selbst kaum erklären, aber die gelben Augen und diese bestimmte Haltung jagten mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter. "Was willst du?", fragte der Dunkelhaarige Konnor unhöflich. "Ich habe mich noch nicht vorgestellt, ich bin Konnor und ich wollte Sie nur fragen, was Sie in unserer wunderbaren Stadt an diesem wunderbaren Tag zu suchen haben!", erwiderte Konnor provozierend. Ich wusste, was nun zu tun war und schlich mich näher an das Geschehene, wartete, dass sich die perfekte Gelegenheit bot. Diese schien aber nicht zu kommen, da Konnor den Fehler begangen hatte, scheinbar die ganze Aufmerksamkeit des gesamten Marktes auf sich zu ziehen. "Verschwinde und such dir jemand anderen zum provozieren!", hörte ich den muskulöseren Mann sagen. Alle Leute drängten sich nun um Konnor und die zwei Männern. Ich suchte mir eine gute Position mit möglichst guter Sicht, ich stand direkt hinter dem dunkelhaarigen Ritter. Ich schluckte einmal und sah mich vorsichtig um. Alle hatten die Augen auf Konnor gerichtet und warteten ab, was er wohl als nächstes tun würde. Das war die Gelegenheit! Langsam griff ich nach dem Beutel, der neben dem Schwert des Mannes am Gürtel hing und schnitt das Band mit einem winzigen Messer durch. Sofort drehte sich der Mann um und starrte mich an. Ich war starr vor Schreck und dachte für eine Sekunde lang, dass mein Herz vor Entsetzen aufgehört hatte zu schlagen. Ich war doch tatsächlich auf frischer Tat ertappt worden! Vor all diesen Leuten! Es war aus! Was ich nun als Nächstes tat, war mehr ein Reflex als eine durchdachte Tat: Ich rannte davon.
Ein Geschrei und ein Gestupste war das einzige, was ich noch um mich herum wahrnahm, ich konnte weder Konnor noch einen der Ritter sehen und wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Ich rannte weiter, so schnell wie ich konnte und bis mich die Beine nicht mehr tragen konnten. Als ich dann endlich nach Luft schnappend stehen blieb, fand ich mich in einer mir unbekannten, dunklen Strasse wieder. Ich hatte keine Ahnung wo ich war, hatte den Markt lange schon hinter mir gelassen und war in einer der kleinen Gassen verschwunden, das war klar, aber ich hatte schnell die Orientierung verloren. Das ist jetzt sowieso egal, dachte ich bei mir und stützte mich an einer der umliegenden Mauern ab. Ich konnte nicht fassen, was passiert war. Der Mann hatte mich sofort bemerkt, als hätte er mich erwartet. Ich konnte von Glück reden, dass er mich nicht sofort gefasst hatte, sonst hätte ich nicht wegrennen können. Langsam ging ich weiter die Strasse hinunter. Warum hatte er mich nicht sofort gefasst? Er hätte gut die Zeit dazu gehabt. Und hatte er mich überhaupt verfolgt? Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass mir jemand auf den Fersen gewesen war. Vielleicht hatte Konnor sie aufgehalten. Bei diesem Gedanken schauderte ich. Ich musste Konnor sofort wiederfinden. Vielleicht war er in Schwierigkeiten. Ich fing an, in die Richtung, aus der ich gekommen war, zurückzulaufen. Es dauerte nicht lange, bis ich mich wieder in den Strassen zurechtfand und wieder auf dem Marktplatz stand. Mit Erstaunen musste ich jedoch feststellen, dass keine Spur von Konnor oder den zwei Männern zu finden war.Hallo zusammen! Danke fürs Lesen. Wenn ihr meine Geschichte gut findet, würden Votes sowie Kommentare mir Freude bereiten! Bis zum nächsten Teil. Eure Ysilra
![](https://img.wattpad.com/cover/46527139-288-k776543.jpg)
DU LIEST GERADE
Keitha
Fantasi"Geh nie in den Wald!" Diese Warnung ist das Einzige, was Keitha noch von ihrem verschwundenen Vater geblieben ist. Niemals hätte sie sich jedoch vorstellen können, dass sie ausgerechnet mit ihrem Bruder und den zwei Männern, die sie bestehlen wollt...