22. Die Entscheidung

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„Das ist also, was du am meisten fürchtest." Es war das blonde Mädchen, ich konnte es sofort an dessen Stimme erkennen. Dieses Mal war es nicht im Wasser, es stand neben mir seit ich weiss nicht wie langer Zeit. Ich wollte es ignorieren, denn gerade an diesem Moment wollte ich nichts über Finlay und von wegen böse hören.

„Ich kann dir helfen", schlug es vor, als könnte es meinen Bruder zurückholen.
„Hallo, hörst du mich?", wiederholte es und winkte mir vor den Augen herum, denn es hatte nicht mal eine Reaktion von mir als Antwort bekommen. Es war mir egal, was dieses Mädchen mir vorschlug, es war mir sogar egal wer sie war. Eigentlich war mir alles egal und ich wollte nur noch sterben.
„Hey! Das ist nicht real! Du bist in einem Traumbaum! Alles, was du siehst, sind deine grössten Ängste, nichts mehr!", schnarrte es genervt und rüttelte mich heftig. Ich erwachte aus meiner Trance und sah sie mit tränenden Augen an.
„Ein Traum?", flüsterte ich schwach und das Mädchen nickte heftig mit dem Kopf.
„Ja, und ich kann dich hier herausbringen", versprach es mir lächelnd und in der Mädchenstimme war zum ersten Mal was Freundliches zu hören.
„Warum würdest du mir helfen, wenn du doch Finlay tot sehen willst?"
„Hallo, ich will ihn vielleicht tot sehen, aber das heisst noch lange nicht, dass dasselbe für dich gilt. Du bist eine gute Person, Keitha, du hast bisher nur das Beste für alle gewollt und du wirst es in Zukunft auch noch wollen. Du handelst nach dem Guten. Fiacre ist das Gegenteil. Er denkt nur an sich, er ist widerlich und böse. Deshalb muss er aus dieser Welt geschaffen werden", erklärte es mir mit bestimmter Stimme.
„Wie kannst du das wissen? Du kennst ihn doch gar nicht!" protestierte ich und fand meine lautere, sichere Stimme wieder. Es fing langsam an, mich ernsthaft zu nerven.
„Ich kenne ihn besser als du! Du kennst ihn für vielleicht mal seit 2-3 Wochen. Hast du eine Ahnung, wie lange ich ihn schon kenne und was er mal sein wird? Glaub mir doch mal endlich!", versuchte sie es verzweifelt weiter.
„Sag mir, wieso um Himmels Willen sollte ich dir überhaupt trauen?", fragte ich wütend und auf das wollte mir das Mädchen keine Antwort geben. Es seufzte einmal, bevor es wieder das Wort ergriff.
„Hör zu: Ich kann dir nichts sagen, sonst kann das auch schlechte Konsequenzen für die Zukunft haben. Ich habe keine andere Wahl, als es auf die harte Weise zu machen: Ich helfe dir nur, weil du eine gute Person bist, jedoch will ich als Gegenleistung, dass du Fiacre im Traumbaum lässt."
Ich wollte widersprechen, doch das Mädchen unterbrach mich. „Bitte vertrau mir doch einfach! Ich kenne die Zukunft und ich würde mir niemals so viel Mühe geben, nur einen Mann umzubringen, wenn es unnötig wäre. Ausserdem verlange ich nicht einmal, dass du ihn umbringst. Lass ihn einfach in seinem Traum, dann erledigt sich das schon von alleine."
Es lächelte mich wieder freundlich an. Was sollte ich nur tun? War Finlay wirklich so böse? Ich wusste schliesslich wirklich nicht viel über ihn. Erschüttert traute ich mich, wieder einen Blick auf den toten Konnor zu erhaschen. Hier wollte ich auf jeden Fall nicht bleiben. Daher hatte ich wohl keine Wahl.
„In Ordnung. Ich werde es tun", murmelte ich und das Mädchen lächelte zufrieden. „Versprochen?" hakte es nach und als ich nickte fing es an, seine Hände zu reiben, bevor es sie dann auf meine Augen legte. Wärme strömte in meinen Körper und alles um mich wurde verschwommen. Die Kälte packte mich wieder und als die Umwelt wieder deutlicher wurde, erkannte ich das Eis und das Licht wieder. Ich war zurück in der Realität.

Wo bin ich nur? , huschte es durch meine Gedanken und versuchte, mich zu rühren. Mein Körperbewusstsein war der Kälte wegen keineswegs zurückgekehrt. Ein paar Sekunden lang befürchtete ich sogar, dass ich dadurch komplett gelähmt war und mich nie mehr bewegen konnte. Doch die Wärme, die das Mädchen mir gespendet hatte, durchfloss langsam meinen ganzen Körper und die beissende Kälte kroch davon. Verzweigte und vom Eis geschärfte Wurzeln und Äste fesselten meinen Körper an einen gefrorenen Baum. Wahrscheinlich musste dies der Traumbaum sein, von dem das Mädchen mir berichtet hatte. Mit viel Geduld konnte ich mich aus den Fesseln des Baumes befreien und mich wieder frei bewegen.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Finlay nicht weit von mir, blass und verfroren auch an einem Baum mit Wurzeln befestigt war. Sein Atem dampfte in der Kälte, sein Gesicht hatte einen starren Ausdruck, die vorher noch im Eis kontrastreichen Augen hatten ihre Lebenskraft verloren und blickten ziellos in die Weite. Die Tasche lag auf dem verfrorenen Boden und ich zog sie zu mir. Dabei mied ich es, ihn anzuschauen.

Lass ihn! , hörte ich tief in meinem Innern die Stimme des Mädchens erklingen. Du hast es versprochen! Mit schnell pochendem Herzen drehte ich Finlay und dem Baum den Rücken zu, mein schlechtes Gewissen hatte mich aber schon gepackt. Er ist böse, versuchte ich mir einzureden und zwang mich, einen Schritt zu nehmen. Mein Gewissen protestierte. Finlay hatte immer das Beste für mich gewollt, ich hatte mich in den letzten Tagen ohne zu zögern auf ihn verlassen können. Bilder tauchten auf: Finlay, der mich zum ersten Mal ansprach und versuchte mich davon abzuhalten, in den Wald zu gehen. Finlay, der mich als Adler liebevoll angeschaut hatte. Finlay, mit seinem verzückenden Lachen auf dem Feensee. Nein! Ich konnte ihn unmöglich dem Tod überlassen, dazu war ich nicht fähig. Aber du hast es versprochen, wisperte mir die Stimme des Mädchens zu.

Ich nahm noch einen Schritt und atmete tief ein. Es war zum guten Zweck. Finlay mochte für mich nett erschienen sein, aber das Mädchen hatte recht: Ich kannte ihn noch nicht seit langem. Dann konnte ich mich wieder an das erste Mal erinnern, als ich ihn auf dem überhäuften Marktplatz gesehen hatte. Das war mehrere Wochen her, ich wusste nicht genau wie viele, da ich schon längst kein Zeitgefühl mehr hatte, dennoch konnte ich mich genau in diesen Moment zurückversetzen. Dazumal hatte ich eine Gänsehaut gekriegt und Finlay war mir unheimlich erschienen. Was, wenn mich mein Instinkt hatte warnen wollen? Ein weiterer Schritt vergrösserte die Distanz zwischen uns.

„Nein, Erylis", murmelte Finlay und meine Resistenz des Nichthinschauens brach. Ich drehte mich um und schritt geradewegs zum Baum hin. Das war's! Ich konnte es einfach nicht tun. Finlay war in seinem schlimmsten Albtraum während ich seine Qualen mit sinnlosen Überlegungen verzögerte. Ein qualvoller Tod verdiente niemand. „Ist schon gut Fin", hörte ich mich zu ihm sprechen, „ich hole dich hier raus." Finlay hörte mich nicht. Sein Gemurmel wurde zu einem qualvollen Jammern und es zerriss mir fast das Herz vor Mitleid. Noch nie hatte ich jemanden in solchen Qualen schreien gehört und ich musste an meinen eigenen Albtraum denken. Es war einfach schrecklich gewesen. Ich schauderte vor Schreck und wollte schleunigst Finlay von seinem Bann befreien. Aber etwas hielt mich zurück: Mein Instinkt. Kaum zu glauben, aber ich hatte plötzlich Angst, was passieren könnte, wenn das Mädchen meinen Betrug herausfand oder wenn herauskam, dass sie Recht gehabt hatte. Konnte ich mich auf meinen Instinkt verlassen?

„Bitte...", heulte Finlay, als wüsste er, was in meinem Kopf vorging und seine gläsernen Augen schimmerten im Mondlicht. Er konnte mich unmöglich gesehen haben, das wusste ich, da ich gerade eben auch im selben Bann gefangen gewesen war. Aber seine Augen waren offen, wie konnte das sein? Ich betrachtete sie und stellte fest, dass sie mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren, was erklärte, wie das Mädchen in meinen Traum gelangt war und mich hatte herausbringen können. Wenn man das Eis schmolz, würde der Traum vorbei sein. Zögerlich begann ich meine Hände aneinander zu reiben. War seine Befreiung wirklich die richtige Entscheidung? „Es ist meine Schuld....", durchbrach Finlay mit gebrochener Stimme die Nacht. Dann fing er an, in seiner Sprache und für mich unverständliche Worte zu murmeln.

'Vertrau mir, warum würde ich mir sonst solche Mühe machen, einen einzigen Mann zu töten?', hallte die Stimme in meinem Kopf wider. Daraufhin wich ich wieder vor Finlay zurück, ehe ich mich abwandte und mich von ihm entfernte. „Es tut mir Leid", flüsterte ich noch und mein Gewissen zerriss fast mein Herz. Ich liess den Traumbaum mitsamt Finlay hinter mir, nur noch sein unüberhörbares Jammern nicht von mir abweichend.

Bald würde es vorbei sein. Finlay würde vom Wald verschlungen werden, genau wie er es mit Konnor und Cronan getan hatte und ich würde befreit von dieser Last sein. Das glaubte ich jedenfalls. Aber das Jammern verstummte nicht und mein Gewissen setzte sich immer mehr durch. Lange würde ich diese Sache nicht mehr durchziehen können.

„Neeein, Keitha!", drang auf einmal Finlays Stimme durch die Nacht, von einer neuen Angst ergriffen. Als er meinen Namen rief, änderte ich sofort meine Entscheidung und rannte zurück. Ich war eine gute Person, und wollte immer das Beste für alle. Das hatte sogar das Mädchen zugegeben. War es eine Schwäche von mir, dass ich nur das Gute in Finlay sah? Eher Naivität. Oder ich war einfach zu ängstlich, alleine zu sein. Schnell erreichte ich wieder die Stelle, wo ich ihn zurückgelassen hatte.


KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt