10. Ein neuer Freund

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Meine Nachtschicht schien kein Ende zu nehmen und das lag wohl vor allem an meiner Angst. Ich fürchtete, dass uns jederzeit ein Wesen angreifen und zerreissen würde, so wie es in der letzten Nacht meinem Bruder und beinahe mir selbst auch ergangen war. Hätte der Adler mich nicht im letzten Moment gerettet, wäre ich nicht mehr am Leben, huschte es immer durch meinen Kopf. Ich grübelte lange nach, über den Adler, Cronan und Finlay, Konnor, meinen Vater und den Wald. Zu viele Geheimnisse, dachte ich. Zuerst der Adler, war er mir gefolgt? Waren die beiden Tiere, die ich gesehen hatte wohl ein und derselbe Adler, oder waren es zwei verschiedene? Und warum wurde ich immer mit ihnen konfrontiert? Was hatten diese Vögel bloß? Welchen Narren mochten sie an mir gefressen haben?
Dann waren noch Finlay und Cronan, die mir einfach nicht sagen wollten, was ihnen das letzte Mal, als sie im Wald waren, zugestossen war. Etwas stimmte nicht mit den beiden, das war klar. Sie waren mysteriös und verbargen eindeutig etwas vor mir.
Worüber hatten sie sich heute gestritten? Und hatten sie nicht noch etwas in ihrer Ledertasche verborgen? Was es wohl sein mochte, dass es sich lohnte, es vor mir zu verstecken?
Das war die Gelegenheit, kam mir plötzlich in den Sinn. Ich konnte doch schnell zur Tasche hinüberschleichen und nach Hinweisen suchen. Vielleicht war es auch an der Zeit, mehr über die beiden Ritter herauszufinden.
Ich zog die Decke von mir runter und ging auf Zehenspitzen langsam zu Finlays Schlafstelle hinüber. Die Tasche musste doch irgendwo hier sein. Auf einmal hörte ich etwas hinter mir knacksen und ich fuhr vor Schreck so fest zusammen, dass ich beinahe auf die Decke, unter der Finlay am schlafen war, fiel. Vorsichtig zückte ich mein winziges Messer und drehte mich um. Im Busch hinter mir raschelte etwas. Ich atmete tief ein und schlich langsam darauf zu. War es wieder der Werwolf? Finlay hatte doch gesagt, dass er sich nur einmal im Monat zeigte. Im Busch raschelte es noch einmal, dann hörte ich das Flügelflattern eines Vogels, und die Stille war zurückgekehrt.
Erleichtert redete ich mich ein, dass es nur eine Eule gewesen sein musste, die vor Schreck weggeflogen war.
Ich musste mich also nicht fürchten, da war ja nichts. Ich wollte gerade wieder zu Finlays Schlafplatz zurück, als ich plötzlich stehenblieb. Da schimmerte etwas am Baum, der neben mir stand und es erweckte meine Neugierde. Als ich näher herankam, sah ich, dass an einem Ast um eine Lederschnur hängend nichts anderes hing als mein Geldbeutel. Das Feuer hatte die wenigen Münzen, die darin waren, durch die Öffnung zum Scheinen gebracht.
Wie kam der denn hierher? Ich hatte diesen Geldbeutel schon fast vergessen, da er der kleinste meiner vielen Sorgen gewesen war.
Mit äußerst grosser Neugierde nahm ich ihn vom Ast und kehrte an meinem Platz zurück, wo ich im schwachen Feuerlicht anfing, den Inhalt des Geldbeutels auszupacken. Das erste, was ich rauszog, war eine wunderschöne, weisse Feder, die eine goldene Umrandung hatte. Sie musste einfach vom Adler kommen, ohne Zweifel. Dann fand ich den kleinen Zettel, der mir Konnor vor ein paar Tagen zugesteckt hatte und den ich nicht mehr hatte lesen können.
Lesen und Schreiben hatte uns Vater beigebracht, natürlich bevor er verschwand, was nicht selbstverständlich war, da in der ganzen Behrdorfregion fast niemand auch nur dazu fähig war, seinen eigenen Namen zu schreiben. Sogar Mutter hatte ihr ganzes Leben lang nie diese Fähigkeit besessen.
Ich entfaltete den Zettel und fing an, die schnell hingekritzelte Schrift meines Bruders zu entziffern.

Keitha
Tut mir leid, was passiert ist. Ich hab den Diamanten. Will die Diebesgilde verlassen und stattdessen nach Vater suchen. Wenn du mitkommen willst, Treffpunkt in zwei Tagen auf unserem Hof. Besorge inzwischen Vorräte. Der Diamant muss der Schlüssel sein. Mit ihm kommen wir durch den Wald. Es muss so sein! Ich bringe Vater zurück. In Liebe,
Konnor.

Ich musste den Text noch zweimal durchlesen, bis ich mir einen Reim aus ihm machen konnte. Ich war erstaunt, wie logisch seine Theorie nun für mich klang. Vater und das Mädchen waren vor etwa 6 Jahre tatsächlich in den Wald gegangen und der Diamant musste sie hindurchgeführt haben. Ich las den Brief noch einmal durch und überlegte weiter. Aber was, wenn Konnor und mein Vater falsch lagen? Was, wenn Vater und das Mädchen immer noch im Wald herumirrten, oder noch schlimmer, umgekommen waren? Vater war ja nie zurückgekehrt. Wir wussten also im Grunde genommen noch nicht einmal, ob es sich lohnte, überhaupt nach ihm zu suchen. Bei dieser Vorstellung erschauderte ich. War es aus diesem Grund, dass der Adler mir den Geldbeutel gestohlen hatte? Mir kam der liebevolle Blick des Adlers bei unserem ersten Treffen wieder in den Sinn. Der Vogel wusste über Konnors Vorhaben Bescheid! Er wollte mich vor dem Wald beschützen. Vielleicht waren es aber auch nur die Dunkelheit und die Stille, die meine Gedanken durchgehen ließen. Ich schüttelte den Kopf. Diese Theorien schienen mir schon viel zu absurd zu sein, aber ich konnte keine andere Erklärung dafür finden, so sehr ich auch danach suchte. Unterdessen war ich mir auch sicher, dass der Adler mir gefolgt war und auf mich aufgepasst hatte, ohne dass ich es je gemerkt hatte. Was auch immer dagegensprach, es zählte in diesem Moment nicht mehr. Es zählte für mich nicht mehr. Zweimal hatte mich ein eigentlich wilder Adler überrascht, hatte mich eines Werwolfes entledigt und mir meinen Geldbeutel - wenn auch mehr unfreiwillig und nachdem er ihn gestohlen hatte - zurückgebracht. Okay, ich hatte ihn nicht berühren können und reiten schon gar nicht, aber ich hatte das Gefühl, in dem Tier einen Freund gefunden zu haben.
Es war mir auch klar, dass es immer derselbe Adler gewesen sein musste, wie sonst wäre mein Geldbeutel an den Ast gekommen? Wahrscheinlich wollte er mir den Geldbeutel zurückbringen. Und das hat er genau während meiner Nachtschicht gemacht, sodass Cronan und Finaly nichts davon mitbekommen konnten. Und der aufgescheuchte Vogel war keine Eule gewesen, sondern der Adler. Das machte alles Sinn!
Ich nahm nochmal die wunderschöne Feder hervor und betrachtete sie liebevoll im Licht des Feuers.
Der Adler ist mein Schutzengel, dachte ich. Warum genau er es war, konnte ich mir aber nicht erklären. Und auch nicht weshalb er mir den Geldbeutel zurückgebracht hatte. Weshalb hätte er Mitleid mit mir haben sollen? Oder fühlten sich Tiere etwa auch schuldig, wenn sie etwas Falsches getan hatten?

KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt