8. Leben oder Verderben

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Meine Beine wurden weich und ich konnte fühlen, wie mir kalt ums Herz wurde. Langsam sank ich zu Boden, meinen Blick auf Konnors Gesicht gerichtet und dann fing ich von Panik ergriffen an zu schreien. "Neeeeeiiiin!"

Sofort hob der Wolf seinen Kopf und liess Konnors Arm los. Er knurrte, bleckte seine mit Blut verschmierten Zähne und kam auf mich zu. Seine bekrallten Tatzen rissen bei jedem Schritt einen Teil des Erdreiches mit sich. Es war aus. Um wegzurennen hätte ich meine Beine gebraucht und genau diese waren weich wie Pudding und konnten mich nicht mehr tragen.

Trotzdem versuchte ich, mich vom Wolf fern zu halten, indem ich mit aller Mühe über den Waldboden kroch, den Blick nie von der Gefahr weichend. Es war sinnlos, das wusste ich selbst. Ich würde einen grausamen Tod sterben. Als Angsthase, der nie die Gelegenheit hatte, sich selbst zu beweisen. Mut zu zeigen. Nein, das muss so nicht sein, schoss es durch meinen Kopf. Ich dachte an Jefferson und Richard, die gegen Finlay gekämpft hatten. Sie waren mutige Jungs und ich hatte sie immer bewundert, sogar den überheblichen Richard. Es war doch sicher auch für ein Mädchen möglich, mal tapfer zu sein. Mit pochendem Herzen sammelte ich all meinen Mut zusammen, zwang meine Beine, mich wieder zu tragen und zückte mein winziges Messer, das kaum länger war als mein Daumen und eigentlich fürs Stehlen gedacht war, aus meinem Hemd.

Ich richtete es in Richtung Wolf und zischte "Gsch, husch, weg mit dir, hau ab..." als bräuchte ich nur das richtige Wort zu sagen, um den Wolf zu verjagen. Aber es funktionierte nicht. Im Gegenteil, meine Worte schienen das Tier nur noch mehr zu reizen, obschon es knurrend und zähnefletschend immer näher kam. Meine einzige Reaktion darauf war, das Messer auf den Boden und mich selbst ängstlich wieder auf die Knie fallen zu lassen. So viel zum Heldendasein!

Der Wolf setzte zum Sprung an und ich spürte kurz darauf, wie schwere Pfoten auf mir landeten und mich auf den bewurzelten Boden drückten. Zähne blitzten im Mondlicht auf und ich schloss die Augen, gefasst darauf, dass diese sich bald in meine Kehle bohren würden.

Ein Flattern, ein Gejaule und plötzlich wurde das Gewicht des Tieres mit Wucht von meiner Brust geschleudert. Ich öffnete die Augen wieder und starrte zu meinem Retter hinauf. Der Adler, der den Wolf verjagt hatte, warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, erhob sich wieder in die Lüfte und war kurz darauf wieder durch die Baumkronen verschwunden, so schnell wie er gekommen war. Was hatte ich nur immer mit diesen Adler am Hut? Schon gestern war ich einem dieser Tiere begegnet. Jenes Tier hatte mich frecher Weise bestohlen, während mir dieses Exemplar gerade das Leben gerettet hatte.

Mühsam zog ich mich wieder auf die Beine und tapste zu Konnors leblosem Körper hinüber. Meine Gedanken schwirrten wie ein Schwarm Mücken hin und her, sodass es für mich schwierig war, an etwas Konkretes zu denken. Das einzige, das ich tun konnte, war zu weinen. Und es tat gut. Ich wusste nicht, wie lange ich mich an Konnors Körper geklammert und diesen mit Tränen überhäuft hatte. Eine halbe Ewigkeit oder nur ein paar Minuten. Aber ich wollte nie damit aufhören.

Sanfte Hände zogen mich irgendwann von Konnor weg, war es Cronan, oder Finlay? Ich wusste es nicht. Die Hände führten mich zum nächstliegenden Baum und zwangen mich sanft, mich daran zu lehnen. "Es wird alles gut", hörte ich die Person sagen. "Schlaf." Als hätten diese Worte magische Wirkung auf mich, wurden meine Augenglieder schwer und ich sank tatsächlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Etliche Stunden später weckte mich die warme Sonne, dessen Stahlen durch die Blätter der Bäume meine Nase kitzelte, auf. Ich blinzelte und für einen Augenblick dachte ich, dass ich lediglich aus einem schlimmen Traum aufgewacht war. Cronans Blick zog mich jedoch in die schlimme Wahrheit zurück.

"Hallo Kleine, hast du gut geschlafen?", fragte er mich lächelnd. Es war ein gequältes Lächeln. Ich rieb mir mit meinen mit trockener Erde beklebten Händen über die vom Weinen angeschwollenen Augen. Ich war von oben bis unten mit Dreck verschmiert. Cronan beugte sich zu mir herunter und zog einen zerknitterten Hut, der mir als Kissen gedient hatte, unter meinem Kopf hervor. "Ich habe diesen Hut nie gemocht", murmelte er und warf ihn ins Gebüsch. "So, jetzt siehst du viel schöner aus", meinte er. Ob er das sagte, um mich aufzumuntern, wusste ich nicht. Aber ich fühlte mich weder verärgert noch aufgemuntert. Ich wollte nur eines wissen. Wie es Konnor ging.

"Deinem Bruder geht es gut", erklärte mir Cronan noch bevor ich den Mund öffnen konnte. "Fin kümmert sich gerade um ihn. Er hat es zwar heftig abgekriegt, aber Konnor ist bei ihm in besten Händen." Er zwinkerte mir zu.

"Kleine, du hast es tatsächlich geschafft, dich ganz umsonst auszuheulen", fing er lachend an. Nun spürte ich tatsächlich Ärger in mich aufkommen. Was fällt dem eigentlich ein, mich so auszulachen, dachte ich und meine Hand schoss schneller, als ich darüber hätte nachdenken können, auf den immer noch zu mir gebeugten Cronan zu. Die Ohrfeige verursachte einen gehörigen Knall und Cronan schwankte mit einem roten Handabdruck auf seinem Gesicht zwei Schritte nach hinten. "Womit habe ich die nun wieder verdient?", fluchte er. Ich stand auf und ging zornig auf ihn zu. "Es ist alles deine Schuld", schrie ich hysterisch und schlug weiter auf ihn ein. "Du hast ihn in den Wald gejagt!"

"Hey, komm wieder runter, Kleine", versuchte er mich zu beruhigen, aber ich kochte nur noch mehr vor Wut und liess meine Fäuste weiterhin auf ihn einhämmern.

"Okay, nun gehst du aber zu weit, Keitha!" Finlay, der nicht weit entfernt gerade dabei war, Konnors Arm mit Kräutern und Bandagen zu bedecken, hatte gesprochen. Er richtete sich auf und drängte mich von Cronan weg. Erst als ich wieder runtergekommen war, liess er mich mit einem halbherzigen Lächeln los und wandte sich wieder Konnor zu.

Ich atmete zwei, drei Mal tief ein und aus, bis ich meine Stimme wiederfand.

"Was war das... für ein Ding?" Damit meinte ich den Wolf.

"Es war ein Ungeheuer der Nacht. Eines, das sich nur einmal im Monat zeigt und seine Beute jagen geht. Ein Werwolf", erläuterte Finlay und strich seinem Patienten eine duftende Paste auf die Wunde. "Dein Bruder hatte Glück, nicht schlimmer verwundet worden zu sein."

Ich starrte auf die Wunde auf seinem Gesicht. Für meine Verhältnisse sah es schon sehr schlimm aus und ich konnte nicht verstehen, in wiefern er damit Glück gehabt haben konnte. "Wie kannst du dir so sicher sein, dass es ein Werwolf war?", fragte Cronan. "Ich habe diese Art von Wunde schon mal gesehen. Sie sieht tief aus, das ist sie aber nicht. Das tödliche an ihr ist das Gift, das man nicht bekämpfen kann und wenn man zu viel davon im Blut hat, stirbt man daran", antwortete Finlay und etwas schien ihn an der ganzen Sache zu beunruhigen.

Das heisst, er könnte immer noch sterben, dachte ich, wieder von der Panik ergriffen. "Konnor hat die letzten Stunde überlebt, daher nehme ich an, dass er keine Überdosis abbekommen hat und es ihn daher nicht töten wird", setzte Finlay seine Erklärung fort und erleichtert atmete ich aus. Er würde leben!

"Ein Wunder ist es jedoch, dass der Wolf dir gar nichts angetan hat", fügte er hinzu und sah mich nun mit durchdringenden Blicken an.

Cronan kam wieder näher und suchte mich nun besorgt nach Wunden ab. "Hör auf! Mir geht es gut!", meinte ich verärgert und stiess ihn fort.

"Tatsächlich! Wie hast du das überlebt, Kleine?", fragte er verblüfft, und mich immer noch betrachtend.

"Ich..ich weiss nicht", murmelte ich scheu. Was sollte ich ihnen sagen? Die Wahrheit? Würden sie ihr Glauben schenken? Ich wusste nicht, ob ich den beiden überhaupt trauen sollte. Cronan war schliesslich nicht bei Konnor gewesen, als der Werwolf angegriffen hatte, und Finlay hatte gewusst, was passieren würde, sonst hätte er mich nicht zurückgehalten. Vielleicht hatten sie beiden diesen Vorfall geplant, um den Diamanten zurückzubekommen und uns Diebe ein für alle Mal loszuwerden.

Aber dann wären sie nicht mehr hier, sagte eine Stimme in mir.

Eine lange Pause trat ein, bis ich wieder das Wort ergriff.

"Ich habe ein solches Wesen noch nie zuvor gesehen. Wie kommt das?"

Cronan und Finlay tauschten Blicke und beide sahen sich so an, als hätten sie sich gerade gestritten. Was war da vorgefallen, während ich am Schlafen war, dachte ich neugierig. Worüber haben sie sich nur gestritten?

"Es gibt einen Grund, warum du sowas nie zuvor gesehen hast", sagte Finlay schliesslich und Cronans Gesicht wurde kaum merklich röter.

"Der Wald ist verzaubert."



KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt