4. Das Verschwinden

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Was hatte ich nur falsch gemacht? Den Stein weggegeben, sodass er sicher aufbewahrt werden konnte? Okay, zugegeben hatte ich den Diamanten nur loswerden wollen, da er während der Zeit, in der ich ihn besessen hatte, eine Prügelei verursacht hatte und ich weitere verhindern wollte. Daran war doch nichts falsch gewesen, oder? Ausserdem vertraute ich Jefferson mehr als allen anderen der Gilde, sogar mehr als Konnor. Wenn ich nun so darüber nachdachte, war ich sicher, dass mein Bruder während der Nacht mit mir und dem Diamanten abgehauen wäre, wenn ich ihn noch in meinem Besitzt gehabt hätte. Deshalb brodelte in ihm nun schon seit mehreren Tagen der Zorn und er verlor auch kein Wort mehr an mich. Den Diamanten hatten wir zu meinem Missvergnügen noch nicht verkaufen können, da es sehr schwer war, einen Käufer zu finden ohne verdächtig zu wirken . Die angespannte Stimmung in der Gilde verschlimmerte sich von Tag zu Tag und alle warteten immer ungeduldiger auf ihren Anteil. Was mir aber am meisten Sorgen bereitete, waren die beiden Männer, die ich bestohlen hatte. Ich konnte Nachts kein Auge mehr zu tun und mein Appetit war auch durchgehend verdorben, weil ich das Gefühl nicht loswerden konnte, dass sie hinter mir her waren. Sie konnten doch unmöglich einen so wertvollen Stein verlieren, ohne danach zu suchen. Und die Einzigen, die sie von der Diebesbande je zu Gesicht bekommen hatten, waren Konnor und ich. Mehr schlecht als recht konnte ich mich dazu überwinden, wieder in meinen Alltag als Strassendieben zurückzukehren, was ich vor allem Richard zu verdanken hatte. Er war genauso wie Konnor schlecht drauf und liess keine Ausreden durchgehen, mich in der Hütte, wo ich sicher sicherer war, zurückzulassen.

Es waren etwa fünf Tage vergangen, als Jefferson eines Abends nach dem Essen und auf einem Tisch stehend der ganzen Bande laut verkündete, er habe endlich einen Käufer gefunden. Alle seufzten vor Erleichterung, nur Konnor und Richard schienen darüber nicht sonderlich erfreut zu sein.
"Wir werden ihn morgen am östlichen Stadttor treffen und über den Preis verhandeln", erklärte Jefferson. "Ich würde vorschlagen, dass ein paar Leute mit mir kommen, sodass wir im schlimmsten Fall abhauen können."
Ich schluckte. Natürlich war ich endlos froh, den Diamanten loszuwerden, aber die zwei Männer konnten nicht aus meinem Gedächtnis gedrängt werden. "Wer genau ist der Käufer?", traute ich Jefferson zu fragen. "Es ist eine Dienerin eines Adeligen - mach dir keine Sorgen, Keitha, ich kenne sie", ergänzte er, als er mein besorgtes Gesicht musterte und lief dabei kaum merklich rot an. "Äh, sie zahlt mit dem Geld ihres Herrn und wird einfach behaupten, dass sie den Stein einem Händler aus dem Süden abgekauft hat, nur um sicher zu gehen, keinen Verdacht zu erregen." In der Bande wurde es unruhig. "Wie viel zahlt sie?", fragte Linda schlussendlich. "Das kann ich euch noch nicht sagen ", erwiderte Jefferson, "wie schon gesagt, wir werden noch darüber verhandeln, morgen um 11 Uhr. Wer will dabei sein?" Zu meinem Erstaunen meldete sich Konnor als erster freiwillig. Was hatte er denn nur jetzt schon wieder vor, schoss es durch meinen Kopf und Sorgenfalten bildeten sich auf meiner Stirn. Ich wusste, dass er auf jeden Fall den Stein nicht einfach so gehen lassen würde. Reflexartig hob ich daher die Hand und meldete mich auch als Freiwillige. Als er es bemerkte, verzog Richard sein Gesicht, erhob sich und rief dann lauthals in die Menge: "Hey, habt ihr vergessen, dass eigentlich ich der Anführer hier bin!" Und als ihn daraufhin alle mit grossen Augen ansahen, fügte er hinzu: "Das ist besser so! Ich bestimme nun die Freiwilligen, die mitkommen sollen."
"Äh, Richard, wenn du sie bestimmst, sind es keine Freiwillige mehr", plapperte es aus mir raus, da mich plötzlich eine unerklärliche Wut ergriff. Gelächter war zu hören und ich konnte auch Konnor flüchtig grinsen sehen. "Ruhe!", schrie Richard und alle schauten wieder stumm auf ihre Teller. "Wie könnt ihr es wagen, mich auszulachen! Ihr solltet dankbar sein, da ich es war, der euch ein Dach über den Kopf gegeben hat", knurrte er. "Und Keitha, es ist mir schnuppe, ob freiwillig oder nicht, ich sage wer morgen mitkommt." Da war es aus. Natürlich wählte Richard weder mich noch Konnor für das Treffen des Käufers morgen aus. Aber auf diese Weise wusste ich, dass auch Konnor keinen Blödsinn mehr anstellen konnte.

Am nächsten Morgen wachte ich recht früh auf und fühlte mich nach so langer Zeit endlich wieder einmal ausgeschlafen. Vorsichtig schlüpfte ich unter der Wolldecke hervor und ging hinüber zum Esstisch. Alle 36 der offiziell aufgenommenen Diebe schliefen im selben Raum auf kleinen, unbequemen Matratzen, die verstreut auf dem Wohnzimmerboden lagen. Viel Platz für neue Mitglieder war nicht mehr übrig. Nur Richard, dem das Haus gehörte, schlief im Raum nebenan, das einzige Zimmer im ganzen Haus. Der Esstisch lag mit der kleinen Küche und dem Wohnzimmer im selben Zimmer.
Es war wirklich eine kleine Hütte, aber es reichte für uns alle.
Als ich bei Konnors Matratze, die seit fünf Tagen nicht mehr neben meiner lag, auf Zehenspitzen vorbei schlich, merkte ich, dass niemand darin lag. Das konnte doch nicht wahr sein! Leise fluchte ich vor mich hin und ging zu meinen Klamotten, die ich mir schnell überzog. Drei Minuten später war ich auf den Strassen Behrdorfs und hielt wieder einmal Ausschau nach meinem Bruder. Ich ging von Gasse zu Gasse, kletterte auf Dächer, um einen besseren Ausblick zu bekommen und fragte sogar vorbeigehende Leute, ob sie ihn gesehen hatten. Es war hoffnungslos. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Wo habe ich ihn noch nicht gesucht, fragte ich mich selber und plötzlich kam mir ein Geistesblitz. Beim Marktplatz. Schnell lief ich wieder zum Marktplatz, der bis auf ein paar Bettler menschenleer war. "Konnor!", rief ich. Keine Antwort. "Konnor, wo bist du?", versuchte ich es nun schon fast verzweifelt erneut und suchte auch die kleinen Gassen ab. Immer noch nichts. Die Bettler musterten mich von der Seite und nachdem ich nervös ihre Blicke erwiderte, gingen sie von dannen. Nun stand ich alleine auf dem schmutzigen Marktplatz.
Das konnte doch nicht sein! Wo war Konnor? Warum war er verschwunden? Lange grübelte ich noch nach und dann setzte ich mich wieder in Bewegung. Es war sinnlos nach ihm zu suchen. Er würde schon wieder zurückkehren. Plötzlich bewegte sich ein Schemen auf dem Marktplatz und ich blieb stehen. "Konnor?", flüsterte ich nervös, "Bist du das?" Der Schemen zappelte und nahm immer mehr an Grösse und Form zu, bis er sich als Schatten eines riesigen Adlers herausstellte. Mit einem Ruck war ich plötzlich in der Luft, während sich zwei riesige Klauen an meinen Schultern festkrallten. Ich schrie aus Leibeskräften und es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine Fassung wieder erlang. Ich flog - wenn auch mehr getragen als aus eigener Kraft, aber dennoch! Mit jedem Meter, den ich an Höhe gewann, wurde auch meine Angst grösser. Kalter Wind peitschte mir ins Gesicht und ich rang um die Luft, die ich zum Atmen brauchte. Ich musste zusehen, wie Behrdorf immer kleiner wurde und schliesslich hinter dicken, weissen Wolken verschwand. Mir wurde von einer Minute zur anderen plötzlich übel. Erst nach einer halben Ewigkeit verloren wir wieder an Höhe und als ich meine beiden Füssen wieder auf festem Boden spüren konnte, lockerte sich allmählich der Griff an meinen Schultern. Ein riesiger Adler, dessen Körper sicher so gross war wie jener eines ausgewachsenen Menschen, landete flügelschlagend neben mir. Ich hielt augenblicklich den Atem an. Noch nie hatte ich ein solch wunderschönes Tier gesehen. Sein Gefieder war mit einem beigen, ins Weisse ziehende, schon fast golden schimmernden Muster übersehen, seine Haltung elegant und stolz. Was aber wohl am beeindruckendsten war, waren seine Augen: Diese tierischen, wilden Augen schauten mich schon fast liebevoll an. Ein Tier, das eigentlich keine Gefühle wie Liebe empfinden können sollte und es dennoch so eindeutig tat, dass es mir fast dem Atem verschlug. Es kann doch keine Gefühle empfinden, dachte ich dennoch und massierte mir die Schultern. Angst empfand ich keine mehr. Zu liebevoll - auch wenn es seltsam klang - schaute der Vogel mich an. Vorsichtig sah ich mich um. Ich befand mich am Fusse eines Berges und vor mir lag eine Landschaft voller Felder und kleiner Bauernhäuser. Wo Behrdorf lag, konnte ich nicht mehr sagen. "Warum hast du mich hier hergebracht?", fragte ich den Adler. Aber dieser verstand mich natürlich nicht, sondern musterte mich nur von Kopf bis Fuss. Natürlich. Natürlich versteht er mich nicht, wie dumm von mir zu erwarten, dass er mit mir spricht, schimpfte ich mich in Gedanken selbst. Trotzdem konnte ich nicht widerstehen und fragte: "Weisst du etwa, wo Konnor sein könnte?" Plötzlich fing er an, nervös mit seinen Flügeln zu schlagen und ich erschrak so sehr, dass ich rücklings auf dem harten Boden landete. Mit einem Mal fielen Schnabel und Krallen über mich her und hackten auf mich ein. "Nein, bitte nicht!", schrie ich und hielt meine Arme schützend über meinen Kopf. Zu meinem Erstaunen hörte es auf und als ich vorsichtig zum Vogel hinaufblickte, konnte ich noch gerade sehen, wie er sich mit meinem Geldbeutel im Schnabel elegant in die Lüfte erhob. "Hey! Was soll das denn?", rief ich ihm nach und stemmte mich auf meine Ellenbogen. Der Adler hatte tatsächlich meinen Geldbeutel geklaut!

Hallo, ich hoffe, dass euch meine Geschichte weiterhin gefällt. Seid ihr gespannt, wie es weitergeht? Eure Ysilra (If you enjoy it, vote for it)

KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt