23. Träume werden wahr

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Mit grossen Schritten war ich auch schon beim Traumbaum, zog Finlays Schwert aus der Scheide seines Gürtels, welche ich vergessen hatte, mitzunehmen, und schlug auf Finlays Fesseln ein. Als er befreit war machte ich mich ans Werk, meine Hände aufzuwärmen und ihn aus seinem Traum zu befreien. Ich spürte, wie das Eis schmolz und als ich die Hände von Finlays Augen entfernte, blinzelte er mir fassungslos entgegen.
Dann passierte es. Bevor ich nur mit den Wimpern zucken konnte, hatte er sich zu mir hinübergelehnt und presste seine Lippen auf meine. Der Kuss kam so unerwartet, dass mir keine Zeit für meine übliche Reaktion, die ich eigentlich gehabt hätte -und zwar zu erröten und ihn verlegen wegstossen - geblieben ist. An dessen Stellen waren die Schmetterlinge in meinem Bauch zurückgekehrt, und übernahmen dort die Kontrolle über all mein Tun und Handeln. So schnell dieser Kuss gekommen war, ging er auch wieder. Als wäre er von einem Blitz getroffen worden, löste Finlay sich wieder von mir.
„Was tust du da?", zischte er mich schon fast aggressiv an, was wieder so unerwartet kam, dass ich vor Verwirrung zu keiner Antwort fähig war. Er rappelte sich auf. „ Hör auf! Benimm dich gefälligst!", schimpfte er weiter und erst jetzt merkte ich, dass er zu sich selbst sprach. Hatte er komplett den Verstand verloren? „Fin, was ist los?", hauchte ich zögerlich, stand ebenfalls auf und stellte mit Enttäuschung fest, dass meine Gefühle allmählich wieder verschwanden. Er drehte sich zu mir um und für eine Weile standen wir uns schweigend gegenüber. „ Keitha...", murmelte er traurig, als wäre ich gerade gestorben. „Es ist vorbei, Fin. Dein Albtraum ist vorbei", erwiderte ich in der Hoffnung, dass er endlich begreifen würde, dass er nicht mehr in einem Traum gefangen war. „Kann sein. Und doch befinde ich mich in einem anderen Traum, der mich genauso bis ins Tiefste quält", antwortete er mit bedrückter Stimme. „Das ist ja bisher schon drei Mal passiert..." „Wovon sprichst du? Es ist wirklich vorbei. Du warst in einem Traumbaum gefangen und ich konnte dich daraus befreien", versuchte ich es weiter und wunderte mich nebenbei inwiefern ein Kuss qualvoll sein konnte. War er denn so schlecht gewesen? Ich spürte, wie mein Gesicht bei diesem Gedanken heiss wurde, was mich wieder in Verlegenheit brachte. Dennoch blickte ich ihn scheu an, kam näher. „Ich kann es dir beweisen" wisperte ich. „Wie?" „Spürst du das?", fragte ich und nahm seine Hand in die meine „Wärme...", sagte ich mit sanfter Stimme. Ich strich mit meinen Fingern über seinen Handrücken, und zeichnete den darauf gebildeten Adler nach. „In einem Albtraum kann man die Wärme nicht spüren, dort ist es nur kalt", erklärte ich. Er schloss seine Augen und hielt meine Hand fest, als wollte er sich vergewissern, dass ich auch tatsächlich warm war. Schliesslich öffnete er sie wieder und seufzte erleichtert. „Es tut mir leid, du hast Recht. Das kann kein Traum sein", gab er peinlich berührt zu und liess meine Hand wieder los. „Was ist ein Traumbaum?" Ich deutete auf den Baum, an den er bis eben gefesselt gewesen war. „Ich kann mich nur noch an das Licht erinnern. Wahrscheinlich haben diese Bäume eine Art von Licht ausgestrahlt, das uns angezogen hat und sobald wir in ihrer Reichweite waren, haben sie uns gepackt und uns in eine Art Traum versetzt. Die Kälte wird vielleicht auch von den Bäumen ausgestrahlt, ich weiss es nicht, aber auf jeden Fall hatte die Kälte auch den Zweck, uns anzulocken", erklärte ich und war von meiner eigenen Theorie selber überrascht. „Das ist ein origineller Name, Traumbaum", meinte Finlay bewundernd und wieder einmal errötete ich. „Wie hast du es geschafft, dich alleine zu befreien?", wollte er wissen. „Das werde ich dir ein andermal erklären. Ich will nur von hier weg, es wird nämlich langsam wieder sehr kalt hier", entgegnete ich ihm.

Ich war froh, dass ich die Erklärung, wie ich mich aus dem Traumbaum befreien konnte, ins Ungewisse hinauszögern konnte, denn ich war überhaupt nicht darauf erpicht, meine Tat zu erläutern. Es wäre peinlich gewesen, zuzugeben, dass ich Finlay beinahe in Stich gelassen hätte. Das Mädchen zu erwähnen kam auch nicht in Frage, denn seit dem Vorfall mit dem Kuss wollte ich es für immer aus meinem Gedächtnis zu vertreiben. Ich redete mir ein, dass es nur Einbildung gewesen war, gar nicht existierte, oder nur eifersüchtig auf mich war. Daher war es nicht wert, meine Gedanken daran zu verschwenden. Vielmehr machte ich mir Gedanken über den Kuss. Ich wusste, dass Finlay mich nie geküsst hätte, wenn er nicht gedacht hätte, dass er träumte. Trotzdem hatte er in mir was ausgelöst, das mich nicht mehr in Ruhe lassen wollte. Seit wir die Kälte und die Traumbäume hinter uns gelassen hatten, schwiegen wir vor uns hin. Und als wir dann unseren Schlafplatz vorbereiteten, hatten wir auch nichts zu sagen. Im Feuerlicht konnte ich mich dennoch nicht davon abhalten, Blicke zu ihm hinüberzuwerfen und ihn zu betrachten, bis er sie spürte und sie erwiderte. Dabei wurde ich jedes Mal rot und schaute schnell weg, ein Kitzeln im Magen. Finlay übernahm die ganze Nachtschicht, ich konnte aber nicht einschlafen. Natürlich war ich froh, dass mich der Albtraum mit dem toten Konnor nicht heimsuchte. An dessen Stelle erschien mir aber Finlay, der mich küsste, was mich nervös machte. Schliesslich gab ich es mit dem Schlaf auf und grübelte vor mich hin. Dass Finlay Gefühle für mich empfand, hatte ich schon vor kurzem herausgefunden. Aber nie hätte ich gedacht, dass ich dasselbe empfinden würde. Er war angsteinflössend, er war schweigsam, er war nicht einmal ein Mensch. Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Cronan war eindeutig der attraktivere Mann, aber ich hatte dieses Gefühl nie bei ihm gespürt.
Ich seufzte, drehte mich auf die andere Seite. Ich öffnete meine Augen und blickte in das Feuer, das in der Nähe prasselte. Daneben sass Finlay, einen Stock in seiner Hand haltend und in die Glut stochernd. Auch er schien in tiefen Gedanken versunken zu sein. Sein Schatten tänzelte mit der Bewegung des Feuers. ‚Er sieht so traurig aus', stellte ich fest und es versetzte mir einen Stich, ihn so zu sehen. Ich raffte mich auf und setzte mich neben ihm hin. „Ich kann nicht schlafen", murmelte ich. Er schwieg. „Kannst du mir etwas von Fòrlentir erzählen?", traute ich mich nach einer Weile des Schweigens zu fragen. „Von Fòrlentir?", wiederholte er ein bisschen erstaunt. „Ja, ich würde gerne mehr davon hören, von deinem Land, deinem Volk, deiner Familie..." „Geht es wieder um dieses Mädchen?", meinte er skeptisch und ich schüttelte schnell den Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Es ist nur so, ich kenne dich kaum..." Er zögerte beunruhigend lange. „Ich sollte dir eigentlich so wenig wie möglich von meiner Welt erzählen. Du weisst eh schon zu viel." „Warum?", wollte ich wissen. „Weil... weil unsere Identität geheim gehalten werden sollte. Stell dir vor: Was wäre, wenn plötzlich ganz Behrdorf, oder noch schlimmer, ganz Lo, wüsste, wer und was wir sind? Würde uns dann noch jemand trauen?" „Ich traue dir, obwohl ich weiss, wer du bist", rutschte es mir über die Lippen, bevor ich etwas dagegen tun konnte. „Und ich werde es niemandem sagen, versprochen", fügte ich hinzu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Dell?" Er starrte auf meine Hand. „Das sagt ihr doch so in Fòrlentir, nicht?" Da war es wieder. Finlays Lächeln auf seinen Lippen, das mir das Kribbeln im Bauchbereich hervorbrachte. „Es heisst „Deal" und es kommt aus Gaya, nicht aus Fòrlentir.", meinte er, ergriff dennoch meine Hand und schüttelte sie.
„Also gut, es kann ja nicht noch mehr Schaden anrichten", seufzte er. „Was willst du denn wissen?" „Mhh, lass mich kurz überlegen... Was ist besonders in Fòrlentir?" „ Es gibt ganz viele Besonderheiten. Zum Beispiel, gibt es Feen, die du auch gesehen hast, einfach andere Sorten. Wir haben etwa zwanzig verschiedene Arten. Und natürlich gibt es auch viele andere magische Wesen, die du im Wald nicht sehen wirst, da sie keine Waldgeschöpfe sind.", erklärte er und plötzlich schien seine Traurigkeit verflogen zu sein. „Das heisst, es gibt die Einhörner nicht nur im Wald?", fragte ich nach und meine Begeisterung stieg. „Ich dachte, diese magischen Geschöpfe könnten nicht aus dem Wald heraus. Das hast du mir doch so erklärt." „Das stimmt auch bei gewissen Arten, aber theoretisch können diese alle in Fòrlentir auftauchen, da unser Land ein Teil des Waldes ist und daher auch unter der Magie des Waldes steht.", führte er seine Erklärung fort. „Was? Da müsst ihr euch aber viel verlaufen!" Er lachte herzlich. „Nein, von dieser Magie sind wir zum Glück nicht betroffen..." erwiderte er „Und habt ihr auch Berge?" „Ja, das haben wir. Auch wenn wir nicht ein so grosses Land sind wie Lo, Gaya oder das Wüstenland und niemals so hohe Berggipfel besitzen wie Gaya, haben wir unsere eigene Bergkette. Dort hat es einst Dracos gegeben haben sollen." Ich verstand nicht was Dracos waren. „Dracos?" „Ja, den Legenden nach waren sie Gestaltenwandler, die sich in riesige, feuerspeiende Echsen mit Flügeln verwandeln konnten, auch Drachen genannt. Sie waren anscheinend die gefährlichsten Gestaltenwandler, die es je gab." „Was ist mit ihnen geschehen?", hakte ich nach. „In Fòrlentir gab es früher viele Kriege, vor allem was den Thronfolger betraf. Und weil diese Gestaltenwandler so gefährlich waren, wurden diese gejagt, bis sie fast vollkommen ausgerottet waren. Bis heute weiss eigentlich niemand, ob sie noch existieren. Es wurde seit Jahrhunderten kein Draco mehr gesichtet oder unseren Wissens nach überhaupt geboren. Nur noch die Legenden existieren." Er unterbrach sich, schloss seine Augen. Enttäuscht interpretierte ich, dass er nicht mehr weitererzählen wollte. Doch da irrte ich mich. Finlay fing an ein Lied zuerst zu Summen und dann zu singen. Seine Stimme war unglaublich, auch wenn sie ein bisschen aus der Übung war. Die Melodie klang melancholisch und traurig, er sang natürlich in seiner Sprache und ich verstand kein Wort, dennoch bekam ich eine Gänsehaut. Als er die letzte Strophe beendet hatte, applaudierte ich begeistert. „ Ich wusste nicht, dass du singen kannst. Das war genial!", sagte ich voller Begeisterung und er lächelte kaum merklich. „Das war Erylis Lieblingslied. Sie wollte, dass ich es ihr jeden Abend vorsinge."

KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt