24. Der Vater

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„Du musst sie wohl vermissen." Er nickte und schien wieder in Gedanken zu versinken. „Weisst du was unglaublich ist? Du ähnelst ihr auf eine Art und Weise." Das Feuer flackerte unruhig in der Dunkelheit der Nacht. „Sie müsste im selben Alter sein wie du und die Art und Weise wie ihr lacht ist sozusagen identisch." Seine Augen fixierten den Stock im Feuer und ich fühlte mich auf einmal unwohl dabei, über Finlays Schwester zu sprechen. Plötzlich erklang ein Heulen und es liess mich vor Schreck zusammenzucken. „Keine Angst, das war weiter weg", beruhigte mich Finlay und ich entspannte mich wieder. Nach ein paar Minuten Pause ergriff Finlay wieder das Wort. „Keitha, es tut mir leid was passiert ist", entschuldigte er sich und ich wusste nicht, ob er damit den Kuss meinte. „Ist schon gut. Wir sind jetzt sowieso quitt. Du hast mir schliesslich das Leben gerettet", wusste ich nur zu antworten.
„Ich... ich muss dir etwas Wichtiges sagen", zögerte er weiter und mein Unbehagen wuchs. "Ich habe gelogen, was Erylis betrifft..." „ Wie meinst du das?" Das Mädchen kam mir sofort in den Sinn und in mir bangte ich plötzlich, dass sie Recht gehabt haben könnte. „Es war kurz nachdem wir aus dem Wald kamen und in Lo landeten. Genauer gesagt war es genau an jenem Ort, wo du uns auf dem Berg gefunden hast. Dort wurde meine Schwester vor sechs Jahren erhängt." Als Finlay dies sagte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Zwar hatte ich etwas komplett Anderes erwartet, jedoch traf mich dies wie eine Ohrfeige. Wie konnte das sein? Sollte Erylis nicht mit meinem Vater irgendwo im Wald oder in Fòrlentir sein? Waren die Hoffnungen, die sich in mir in den letzten Wochen angesammelt hatten, alle umsonst gewesen? „Du meinst sie ist....", stammelte ich und schluckte das letzte Wort hinunter."...tot. Ja, das ist sie", bestätigte Finlay und seine Traurigkeit war in sein Gesicht zurückgekehrt. „Was ist mit meinem Vater?", wollte ich sofort wissen, von der Angst gepackt, die Wahrheit zu erfahren. „Ich weiss es nicht. Es war niemand anderes da. Wir haben nie herausgefunden, wer das getan haben könnte und ich werde es wohl nie in meinem Leben erfahren... Aber vielleicht war dein Vater an ihrem Mord beteiligt." „Nein, das ist nicht wahr", stammelte ich und die Vorstellung, dass mein Vater möglicherweise ein Mörder sein konnte, raubte mir fast den Atem. „Mein Vater war der liebevollste Mensch, den ich kannte. Er würde einem zehn jährigen Kind nie etwas antun." Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, die mir die Wangen runterkullerten und ich wischte sie schnell mit meinem Ärmel weg. „ Ich weiss, wie sehr du deinen Vater geliebt hast", meinte Finlay sanft, als wollte er mich beruhigen. „Und es war nur eine Vermutung, die ich hatte, als du mir das erste Mal von ihm erzählt hast. Vielleicht ist er ja auch tot, oder er konnte vor den Angreifern fliehen..." Ich schwieg, meine Tränen kullerten mir weiterhin die Wangen hinunter und ich versuchte mein Gesicht vor ihm zu verbergen. Auf keinen Fall wollte ich emotional werden und meine Hoffnung verlieren. Konnor hatte mich andauernd überzeugen wollen, dass unser Vater lebte und hatte im Gegensatz zu mir die Hoffnung nie verloren. Und nun wollte ich seinem Beispiel folgen. Mein Vater musste leben und er war nicht Erylis Mörder, da konnte Finlay so viele Vermutungen machen wie er wollte. „Ich glaube, du hast Recht", kam es leise aus mir heraus und ich getraute mich, einen schnellen Blick zu ihm hinüberzuwerfen. „Er muss entkommen sein. Ich weiss, dass er lebt." Ich wischte mir nochmals die Tränen von meinem Gesicht und sog tief Luft ein. „Ich werde nie die Hoffnung aufgeben!", sagte ich in dem Versuch, überzeugt zu klingen, fühlte mich dabei aber ein bisschen dämlich, da meine Stimme eher zittrig ausfiel. „Hoffnung...", kam es von Finlay schon fast kalt zurück. „Du bist jemand, der noch an Hoffnung, an das Gute glaubt." Er seufzte, strich sich durch das inzwischen länger gewordene Haar. „Ich glaube schon lange nicht mehr an Dinge wie Hoffnung, denn sie bringt nur Enttäuschung und Schmerz mit sich." Ich sah ihn erstaunt an. Finlay war verbittert, was dieses Thema betraf - was ich nie gedacht hätte, jetzt wo ich aber darüber nachdachte, aber eigentlich nicht erstaunlich sein sollte. Er hatte mehrere Male versucht, in sein Heimatland zurückzufinden und hatte nie Erfolg gehabt. „Wenn man keine Hoffnung haben darf, was soll uns dann durchs Leben bringen?", fragte ich provozierend, da ich überhaupt nicht seiner Meinung war. „Nichts. Man muss sich selbst durchs Leben schlagen, an sich selbst glauben, und keinem trauen." Ich lachte auf. „Da widersprichst du dir aber. Wenn man niemandem trauen sollte, warum hast du dir dann die Mühe gegeben, mein Vertrauen zu gewinnen?" Unsere Blicke trafen wieder aufeinander. „Ich habe das nie gewollt", versicherte er mir, seinen Blick an mich heftend. „Du bist nur zu naiv, jedem zu trauen, der vor dir steht. Ich bin nicht so gut wie du glaubst." Für einen kurzen Moment dachte ich, ein kurzes Flackern in seinen Augen aufblitzen gesehen zu haben. „Nein, das glaube ich nicht. Du bist zu gut, um nach diesem Prinzip zu handeln. Warum hättest du mich denn sonst gerettet? Warum hättest du mir denn sonst alles über dich erzählt?", wandte ich ein und hielt seinem Blick stand. „Dafür gibt es keinen Grund. Ich habe es einfach getan, was aber noch lange nicht heisst, dass du mir trauen sollst", gab er gereizt zurück. „Auf was willst du hinaus?", wollte ich wissen, wohlwissend, dass er eigentlich anderes ausdrücken wollte. „Dein Vater war wahrscheinlich nicht die Person, die du geglaubt hast, dass er ist. Er musste etwas vor euch verborgen haben. Hast du dich schon mal gefragt, warum er spurlos verschwunden ist? Oder woher er so viel von diesem Wald wusste? Sag mir nicht, dass er meine Schwester nach Hause bringen wollte und all diese Geschichten aus Behrdorf hat. Etwas ist faul an der ganzen Sache. Erstens sollte niemand aus Lo so vieles über die Kreaturen im Wald wissen und zweitens würde nicht mal der netteste Mensch des ganzen Landes sein Leben für ein fremdes Mädchen aufs Spiel setzten. Du musst aufhören, nur an das Gute im Menschen zu glauben, es wird sonst nur schlecht enden." Es verletzte mich, all das zu hören. Am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben und ihn angeschrien, dass er weder mich noch meinen Vater kannte. Jedoch hielt ich mich zurück, denn ein Gefühl sagte mir, dass er damit vielleicht doch nicht ganz Unrecht hatte und eine Seite von mir erkannte, von der ich nicht wusste, dass ich sie besass. Ausserdem hatte er Recht: Es war mir bislang als selbstverständlich vorgekommen, dass mein Vater so vieles über den Wald wusste und es war mir nie in den Sinn gekommen, ihn zu hinterfragen. War ich wirklich so naiv? Das Mädchen kam mir wieder in den Sinn. Hatte es nicht auch schon über meine Güte gesprochen? War es nur aufgetaucht, um mich über genau dasselbe aufzuklären? Im Gegensatz zu Finlay wollte sie jedoch mich vor ihm warnen und ihn aus einem für mich unbekannten Grund tot sehen. Sollte ich ihm schlussendlich doch nicht trauen? Er hatte sozusagen bestätigt, was das Mädchen mir zu sagen versucht hatte. Verwirrung herrschte in mir.
Seit ich im Wald war, wurde meine Welt von Sekunde zu Sekunde mehr auf den Kopf gestellt. Der Wald veränderte nicht nur sich selbst, sondern die Personen, die sich darin verirrt hatten. Je länger ich darin war, desto weniger erkannte ich mein altes Ich wieder. Dennoch war mir klar, dass sich eine Seite an mir nicht ändern würde: Meine Gefühle für Finlay. Und diese würden mich in den Abgrund ziehen, wenn das Mädchen Recht hatte. Seit dem Vorfall mit dem Kuss hatten mich meine Gefühle nicht in Ruhe gelassen und mir wurde plötzlich bewusst, dass genau diese Gefühle mich davon abhalten würden, Finlay zu misstrauen.
„Vielleicht stimmt es, was du sagst. Mein Vater musste etwas zu verbergen gehabt haben und er könnte sogar der Mörder deiner Schwester sein. Trotzdem will ich naiv bleiben und weiterhin an die Hoffnung glauben, genau wie du es tust, auch wenn du es dir nicht eingestehst." Da schüttelte Finlay nur den Kopf. "Du willst mir nicht glauben, das ist schon in Ordnung, aber du wirst deine Meinung schon noch ändern, vertrau mir. Es wird nicht lange dauern und du verstehst genau, was ich meine."
"Was glaubst du, warum er deine Schwester umgebracht hätte?", wollte ich wissen, da er mich anscheinend immer noch als naiv ansah, was mich zutiefst ärgerte, und er anscheinend meinen Vater besser kannte als ich. "Er könnte sie umgebracht haben, weil er in ihr eine Gefahr für die Menschen gesehen hat. Er muss schnell begriffen haben, dass sie nicht ein normales Mädchen war", meinte er und seufzte dabei leise. "Ich kann sonst keine andere Erklärung finden"
Da fiel mir auf einmal ein, dass Finlay mir nie verraten hatte, was für eine Fähigkeit seine Schwester überhaupt besessen hatte und ich war nun darauf erpicht zu erfahren, was es war. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie umgebracht worden war. Sie hatte den Menschen Angst eingejagt, oder sie war tatsächlich gefährlich gewesen, sodass man sie aus Notwehr hatte umbringen müssen. Trotz Finlays Theorie konnte ich nicht glauben, dass mein Vater schuld an Erylis Tod gewesen sein sollte. Es musste doch eine nachvollziehbare Erklärung geben. "Was war ihre Fähigkeit?" Ich sah ihn gespannt an und war mir schon fast sicher, dass sie sich auch hatte in ein Tier verwandeln können, doch die Antwort enttäuschte mich.
"Sie hatte noch keine"
"Aber, das kann doch nicht sein! Du hast doch gesagt, dass jeder Mindear eine Art Fähigkeit besitzt!", erwiderte ich perplex. Das brennende Holz knackte leise. "Man bekommt seine Fähigkeit erst während seinem zehnten Lebensjahr", erklärte er und deutete auf seine Handfläche wo der Adler abgebildet war. "Man wird zur Tränenquelle gebracht, einem heiligen Ort in der Nähe des Waldes, und während man darin badet, wird einem seine Fähigkeit offenbart. Es heisst, dass die Tränenquelle aus den Tränen von Mindea entstanden sei und deshalb noch Magie der ehemaligen Göttin beinhaltet. Das Wasser hilft daher, sein wahres Selbst zu befreien. Erylis war kurz vor diesem Ritual von Zuhause weggelaufen, daher ist ihre Fähigkeit verborgen geblieben."
Ich schüttelte den Kopf.
"Dann gibt es also gar keinen Sinn mehr! Mein Vater hätte also gar keinen Grund gehabt, sie zu töten!" ich fühlte, wie meine Stimme anfing zu zittern und meine Emotionen wieder die Oberhand gewannen.
"Das ist auch nicht wichtig", versuchte Finlay mich zu beruhigen, bevor ich wieder in Tränen ausbrach.
"Ich hoffe nur, dass wir eines Tages auf ihre Spuren kommen und herausfinden, was tatsächlich geschehen ist."
Er warf seinen Stock ins Feuer und stand auf.
"Wichtig ist es erst einmal, Cronan und Konnor wiederzufinden und aus dem Wald zu kommen. Versuch zu schlafen, Keitha. Wir haben heute so viel erlebt, wir müssen uns ausruhen."
Er schlenderte zu seiner Tasche, legte sich hin und stellte sie unter seinem Kopf hin.
Auch ich ging an meinem Schlafplatz zurück, dieses Mal wusste ich jedoch, dass der Kuss mich nicht vom Schlaf abhalten würde, sondern die Vorstellung, dass mein Vater einen Mörder war.

KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt