"W...was?", hauchte ich kraftlos, meine Augen fixierten den Menschen vor mir, der sich nun über mich lehnte und mich sanft vom Boden aufhob. Ich erkannte seinen Griff wieder, diese sanfte Berührung, die mich schon vor zwei Tagen vom verletzten Konnor weggebracht und mich an einem Baum zurückgelassen hatte.
Vorsichtig wurde ich auf das weiche Gras gelegt und meine Stirn wurde abgetastet, die sich anfühlte, als stünde sie in Flammen.
Schliesslich murmelte diese Person, die ich nun schon mehrere Tage kannte, etwas vor sich hin und legte kurz darauf eine Flasche an meinen Mund. Ich trank einen Schluck daraus und das Wasser, das darin war, brachte mir sofort die Lebensgeister zurück.
"W...wie?" Ich konnte immer noch nicht klar sprechen, weil ich meinen Augen immer noch nicht trauen konnte. Schliesslich schluckte ich noch einmal leer und sprach seinen Namen aus.
"Finlay!"
Der Name klang fremd in meinen Ohren, vor allem, weil der Mann, der nun vor mir sass, sich gerade überhaupt nicht aufführte wie Finlay. Wie war das möglich? Warum war Finlay der Adler? Wahrscheinlich hatte ich meinen Verstand nun vollkommen verloren. Ein Mensch konnte sich nicht in einen Vogel verwandeln, das war einfach unmöglich. Aber nach all dem, was ich hier erlebt hatte, musste ich gestehen, dass nichts unmöglich sein konnte.
"Wie?", fragte ich erneut. Finlay blieb stumm wie ein Stein und versuchte meinen Arm zu untersuchen, den ich aber schnell wegzog.
Als er bemerkte, dass ich nicht im Geringsten Lust hatte, von ihm untersucht zu werden, entfernte er sich von mir und setzte sich ein paar Meter weiter wieder hin. Er schaute mich nicht an, wahrscheinlich weil er sich unwohl in seiner Haut fühlte.
"Was bist du?", hakte ich weiter nach und als ich immer noch keine Antwort bekam, wurde ich langsam wütend.
"Fin, antworte mir gefälligst!"
Immer noch stumm. Dann schaute er mich direkt an. Nun, da ich wusste, wer der beschützende Adler war, konnte ich in Finlays Augen tatsächlich zum ersten Mal etwas Tierisches erkennen.
"Versprich mir, dass ich dich untersuchen kann, wenn ich deine Fragen beantworte", sagte er dann schlicht. Ich nickte langsam und meine erste Frage sprudelte schon aus meinem Mund.
"Bist du ein magisches Tier?"
"Ja und nein. Ich komme nicht aus dem Wald. Und ich gehöre auch nicht zu den magischen Wesen", murmelte er.
"Was bist du dann?", wollte ich wissen.
"Ich bin ein Gestaltenwandler", antwortete er ohne zu zögern.
"Weiss Cronan, was du bist?"
"Natürlich weiss er's. Was denkst du, warum er diese Witze mit der Feder gebracht hat?", entgegnete er und vollführte eine ausladende Handbewegung.
"Ist er etwa auch..." Plötzlich fiel mir etwas Schreckliches ein. "Ist Cronan etwa der Werwolf?"
Sofort schüttelte Finlay den Kopf.
"Nein, er würde niemals einen Unschuldigen verletzten."
Ich war davon zwar nicht gerade überzeugt, da Konnor in Cronans Augen sicher nicht so unschuldig war wie Finlay es gerade behauptet hatte. Er hatte schliesslich den Diamanten gestohlen.
"Darf ich dich jetzt untersuchen?", fragte Finlay und kam wieder zu mir herüber. Zwar hatte ich noch lange nicht alle Fragen gestellt, die mir ungeduldig auf den Lippen lagen, aber ich protestierte nicht und liess ihn ohne ein weiteres Wort meine Schulter untersuchen. Es war eher eine unangenehme Angelegenheit, da ich Finlay nicht mehr aus den Augen lassen konnte und ihn mit den Augen immerzu nach übrig gebliebenen Federn absuchte. Als er meinen Blick erwiderte, wandte ich meinen Blick nervös von ihm ab. Meine Wangen waren heiss und das unangenehme Kribbeln in meinem Bauch war wieder aufgetaucht.
"Du hast eine leichte Prellung abbekommen. Da hilft die Paste sicher weiter." Er zog seine Tasche zu sich, wühlte ein paar Sekunden darin und nahm dann eine kleine Holzschatulle raus.
"Zieh dein Hemd aus", bat er mich und ich lief rot an. Was fiel ihm eigentlich ein? Ich konnte mich doch nicht vor ihm ausziehen.
Er bemerkte meinen Gesichtsausdruck und zu meiner Erleichterung zwang er mich zu nichts, sondern sagte aufmunternd: "Oder zieh einfach dein Hemd halb über den Kopf, sodass die Schulter frei ist."
Ich gehorchte und liess mich eincremen. Dabei fühlte ich mich in Finlays Nähe mehr als unwohl. Als meine Schulter mit der duftenden Paste eingeschmiert war, kam mein Bein dran. Es war nur ein bisschen aufgeschürft, mehr nicht und Finlay band nur eine Bandage darum.
"Wo hast du das alles gelernt?", fragte ich verwundert.
"Meine Mutter hat es mir vor Jahren beigebracht..." , murmelte er nur und steckte die Schatulle wieder in seine Tasche zurück.
"Du hast mir immer noch nicht gesagt, wer du wirklich bist", stellte ich fest und sah ihn mit interessierten Augen an.
"Wie bist du zum Adler geworden?"
Seufzend liess er mein Bein los, nahm sich die Flasche und öffnete sie. Er liess sich Wasser über seine Handfläche laufen und ich begriff erst warum, als auf seiner Haut ein Bild erschien. Schwarz und als wäre die Zeichnung in die Haut eingraviert worden, war darauf ein Adler zu erkennen. Finlay tat dasselbe mit seiner anderen Hand, auf der kurz darauf genau die gleiche Abbildung erschien.
"Was ist das?", fragte ich verwundert und strich mit meinen Fingern über die nasse Stelle.
"Es ist ein Markenbild. Es definiert, wer ich bin", erklärte er und ich begriff nicht wirklich, was er damit meinte.
"Wie genau das?"
Er seufzte, schüttelte den Kopf und sah mich für einen Moment mit überlegter Miene an. Mir war bewusst, dass er zögerte, mir die Wahrheit zu sagen.
"Es ist eine lange Geschichte und ich werde dich damit nur langweilen", meinte er schlussendlich. "Nein, ich will es wissen!", erwiderte ich sofort.
"Also dann...", räusperte er sich und überkreuzte seine Beine. "Wo soll ich anfangen..." Es dauerte eine Weile bis er den Faden fand. "Ich komme nicht aus deiner Welt", begann er und korrigierte sich sofort, als ich ihn verdutzt anstarrte. "Ich meine, Cronan und ich... Wir kommen von der anderen Seite des Waldes."
"Was?", unterbrach ich ihn erstaunt. Konnor hatte also recht gehabt: Man konnte den Wald durchqueren und Vater hatte versucht, mit dem Mädchen durchzukommen. "Ja, man kann tatsächlich diesen verzauberten Wald durchqueren, jedoch ist es bisher kaum jemandem gelungen", erklärte Finlay weiter." Und auf der anderen Seite liegt mein Heimatland, Fòrlentir." Finlay erlaubte sich ein paar Sekunden Pause, bevor er seine Erzählung fortführte. "Es ist ein isoliertes Land, das seit Jahrtausenden keinen Kontakt zu dieser Welt mehr hat, weil das winzige Land von diesem Wald umringt wird, wie eine Insel ."
"Warum?", wollte ich wissen.
"Das ist schwierig zu sagen. Gewisse glauben, dass die Götter uns vor langer Zeit bestraft haben"
Ich stutze beim Wort Götter. Gab es nicht nur einen Gott? Ich hatte noch nie jemanden von Göttern sprechen hören. Als ich aber länger daran dachte, konnte ich mich erinnern, dass Cronan mehrere Male "Götter" gesagt hatte. Mir war es vorher einfach nie aufgefallen.
"Weshalb?"
"Mmmm", brummte Finlay vor sich hin," das ist eine lange Geschichte, aber sie kann eigentlich deine erste Frage beantworten." Er räusperte sich nochmals und begann seine neue Erzählung.
"Es gibt eine Legende, die über die Entstehung Fòrlentirs und dessen Wald berichtet...
Vor langer Zeit soll es in dieser Welt Onnbeitirs und Barrachbeitirs gegeben haben - das heisst: Menschen die an einen Gott glaubten und solche, die an mehrere Götter glaubten.
Die Geschichte beginnt in einem Land, Nurgol, das gleich war wie jedes andere nebenliegende Land: Ein Königreich mit einem Herrscher, arme und reiche Menschen, Bauernhöfe und Städte. Das aussergewöhnliche an diesem Land war jedoch, dass es das einzige war, das noch Barrachbeitirs als Herrscherfamilie besass und dies führte zu grossen Konflikte in der Bevölkerung und unter den anderen Herrschern. Die Onnbeitirs, die in der Überzahl waren, wollten auf jeden Fall nicht mehr von den Barrachbeitirs, der Minderheit, regiert werden. Mit den Jahren gab es viele Konflikte zwischen den beiden Gruppen und die Herrscherfamilie fühlte sich von Jahr zu Jahr bedrohter. Schliesslich beschloss der Herrscher seinen jüngsten Sohn ins Exil zu schicken, sodass im Falle einer Absetzung des Herrschers dieser zurückkehren konnte, um die Macht wieder zu ergreifen. Der Junge floh an die Grenze von Nurgol, in die Keitha-Wälder..."
Als ich meinen Namen hörte, stutze ich nochmals, unterbrach die Geschichte jedoch nicht."...Ein Ort des Friedens, wo jeder willkommen war. Für drei gesamte Jahre blieb er dort. Man weiss nicht alle Details, aber nach dieser Version der Legende verliebte sich der Jüngling während dieser Zeit in eine wunderschöne Frau, die er manchmal - aber ausschliesslich - in den Keitha-Wäldern zu Gesicht bekam. Sie soll eine mysteriöse Frau gewesen sein, die augenblicklich verschwinden und an einem anderen Ort wieder auftauchen konnte. Man soll nur sehr wenig über sie gewusst haben und viele schienen sich vor ihr gefürchtet zu haben, da sie geglaubt haben sollen, dass sie ein böser Walddämon gewesen sein soll. Der Jüngling hingegen sah nur das Schöne in ihr und beschloss, sehsüchtig nach ihr zu suchen.
Nach langer Zeit fand er sie dann auch und bat sie sofort um ihre Hand, aber sie lehnte ab. Sie soll ihm erklärt haben, dass sie zwar auch Gefühle für ihn empfände, es ihr jedoch verboten war, mit einem Sterblichen zusammen zu sein. Nachdem der Jüngling sie angefleht hatte, mindestens eine Nacht mit ihm zu verbringen, beschloss sie nach langem Zögern, ihn in einer Vollmondnacht doch zu treffen. Nach dieser einen Liebesnacht verschwand die Frau jedoch wie vom Erdboden verschluckt und der Jüngling bekam sie erst nach vielen Jahren wieder zu Gesicht."
"Wer war die Frau?", fragte ich verwundert.
"Sie war eine Göttin. Sie hiess Mindea und war die Göttin der Wälder, Tiere und vieles mehr.
Die Keitha-Wälder waren ihre Kreation und einer ihrer Lieblingsplätze, wo sie meist und unerlaubter Weise ihre Zeit damit verbrachte, den reisenden Menschen zuzuschauen.
Als sie in ihre eigene Welt zurückkehrte und sich nach etlichen Monaten herausstellte, was sie getan hatte, wurde sie - schwanger vom Jüngling - endgültig in die Welt der Menschen verbannt. Zuvor war ihr noch all ihre Macht weggenommen und versiegelt worden, sodass sie das Schicksal eines einfachen Sterblichen erleiden musste.
In den ersten Jahren traf sie das Schicksal schwer: Sie gebar einen Jungen und lebte alleine im Schatten der Keitha-Wälder.
Der Jüngling, der sie jahrelang gesucht hatte, kehrte jedoch zu ihr zurück und nahm sie und dessen Sohn mit nach Nurgol, wo sie zusammen die Macht der Herrscherfamilie zurückerlangten und als Herrscher über das Reich während fünf Jahren regierten. Mindea war zwar eine Sterbliche geworden, aber sie lebte ihre glücklichsten Jahre zusammen mit ihrer großen Liebe. Und das verärgerte die Götter zutiefst, da sie Mindea eigentlich für ihre Tat hatten bestrafen wollen.
Sie beschlossen daher, ihren Mann, den König, zu verfluchen. Von einer Nacht zur anderen verwandelte er sich in ein Tier und verschwand dann für immer aus dem Leben seiner Geliebten.
Dies brach ihr natürlich das Herz und sie versuchte erfolglos, ihn zu finden. Ihr wurde nach vielen Monaten bewusst, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihren Sohn alleine grosszuziehen und das Land musste auch regiert werden. Als der Junge zehn Jahre alt wurde, tauchte dann aber das nächste Problem auf: er besass selber göttliche Mächte, die eine Gefahr für die ganze Menschheit darstellten. Die Götter wussten nicht, wie mit dem Problem umzugehen war, da der Junge kein vollkommender Gott war und daher nicht in ihre Welt gelangen konnte. Mindea flehte sie an, ihren Sohn nicht umzubringen, da er für seine Macht nichts konnte. Ausserdem war seine Macht sehr beschränkt, sodass er zwar gefährlich für Menschen war, aber nicht für die Götter selbst.
Und daher beschlossen die Götter, die Keitha-Wälder zu vergrössern und Nurgol damit komplett von der restlichen Welt zu isolieren. Sie wollten den noch kleinen Jungen daran hindern, die Macht über die ganze Welt zu erlangen. Was anschliessend passiert ist? Ganz einfach, Mindea ist nach einem Menschenleben gestorben und ihr Sohn hat die Herrschaft über das Reich seiner Mutter übernommen, bis dann auch er von dieser Welt gegangen ist. Alles was noch von dieser Geschichte geblieben ist, ist der Wald und Fòrlentir, das frühere Nurgol." beendete Finlay seine Geschichte.
"Ich verstehe immer noch nicht, was das mit dir zu tun hat", meinte ich nachdem er geendet hatte.
"Was ich damit zu tun habe? Ich bin Mindeas und Fiacres Nachfahre, genau wie es jeder Mindear ist."
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Keitha
خيال (فانتازيا)"Geh nie in den Wald!" Diese Warnung ist das Einzige, was Keitha noch von ihrem verschwundenen Vater geblieben ist. Niemals hätte sie sich jedoch vorstellen können, dass sie ausgerechnet mit ihrem Bruder und den zwei Männern, die sie bestehlen wollt...