12. Das Mädchen im Wasser

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"Keine Sorge, die kann sich nicht bewegen", meinte Cronan und betrachtete den Kopf der bräunlichen Pflanze. "Wir machen einen grossen Bogen um sie und dann ist das auch schon geklärt."
Ich war froh, dass wir alle damit einverstanden waren und uns der Pflanze nicht nähern mussten, doch die Sache war, dass es einfacher gesagt als getan war. Wir waren nämlich in eine Art Nest dieser Pflanzen gelangt: an jedem Baum und in jeder Ecke war eine dieser fiesen, fleischfressenden, zum Teil mehrköpfigen Pflanzen zu sehen und versperrten uns den Weg.
"Wie wäre es, wenn wir ein Stück zurück gehen, sodass wir aus diesem Nest kommen?", schlug Konnor schliesslich vor und da uns nichts mehr anderes übrig blieb, kehrten wir tatsächlich um. Nach einer Weile bemerkten wir jedoch, dass Finlay durchaus recht gehabt hatte: Der Teil des Waldes, den wir gedacht hatten, hinter uns gelassen zu haben, war nicht mehr zu erkennen und die fleischfressenden Pflanzen versperrten uns jeden Ausgang.
"Das ist der Wahnsinn!", staunte Konnor. "Wie kann das nur sein, wir sind doch von da gekommen?"
"Der Wald verändert sich schnell, wenn man eine Stelle mal hinter sich gelassen hat", erklärte Finlay Konnor, was er mir vor eine Weile ebenfalls erläutert hatte.
"Wie kommen wir hier wieder raus?", fragte ich besorgt. Diese fleischfressenden Pflanzen schienen für mich zwar nicht so gefährlich zu sein wie der Werwolf, aber ich hatte das Gefühl, dass sie Gefährlicher waren als sie aussahen.
"Wie wäre es, wenn wir die Köpfe dieser Dinger abhacken würden? Schliesslich sind die Hälse lang und dünn", schlug Cronan fast schon heldenhaft anmutend vor und zog sein Schwert mit elegantem Schwung aus der Scheide. "Folgt mir erst, wenn die Gefahr vorüber ist."
Wie der Blitz ging er mit erhobenem Schwert auf einer der Pflanzen zu, deren Kopf vom Ast eines dicken alten Baumes hinabhing. Als er nahe genug war und danach Schlug, passierte das Unfassbare: Die Pflanze wich Cronans Hieb aus, indem sie ihren Kopf in die Höhe zog und kurz darauf schoss sie mit sperrangelweit geöffnetem Mund auf den überraschten Cronan zu, der keine Zeit mehr hatte, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Zwei Beine waren gerade noch so zu sehen, die aus dem Schlund der Pflanze lugten und ein dumpfer Schrei ertönte aus ihrem Inneren. Nun zückte auch Finlay sein Schwert und eilte seinem um Hilfe rufenden Bruder zur Hilfe. Im Gegensatz zu Cronan war Finlay aber eindeutig der bessere Kämpfer. Viel geschickter schwang er seine Waffe, als wäre sie lediglich eine Verlängerung seines Armes und köpfte die Pflanze innerhalb eines einzigen Augenschlags. Zusammen befreiten wir schliesslich den mit Speichel durchtränkten Cronan. "D..danke", keuchte er und strich sich den glitschig grünen Schleim aus dem Gesicht. "Das war doch ein Kinderspiel, oder?" Er grinste und zwinkerte mir zu, als hätte er gerade uns das Leben gerettet und nicht umgekehrt. Konnor schüttelte nur den Kopf und murmelte leise. "Was für ein Dummkopf." "Wir müssen von hier fort, schnell!", rief Finlay und zog mich mit sich. Überrascht blickte ich zurück und konnte nur sehen, wie am Stumpf bereits wieder der Kopf nachwuchs, oder besser gesagt zwei Köpfe, und nach uns schnappten.

Wir hatten Glück und liessen fast unversehrt die Mörderpflanzen hinter uns, mit Ausnahme von Cronan, bei dem der Schleim anscheinend eine Störung des Haupthirns hervorrief. Wie betrunken schlurfte er hinter uns her und sang dabei ein schlecht angestimmtes Lied in seiner Sprache. Verärgert musste Konnor ihn andauernd weiterstossen, da Cronan plötzlich die Blätter der Bäume so attraktiv fand und sie beinahe lüstern liebkostete. Ich hätte Cronan in seinem Zustand herzhaft auslachen können, aber der sich immer wandelnde Wald zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die Bäume hatten Blätter in allen Farben, überall waren merkwürdig geformte, für mich völlig unbekannte Pflanzen zu sehen. Riesige Blüten, auf denen ich sicher ohne größere Probleme hätte liegen können, leuchteten rot, blau, gelb und veränderten die Farben wieder nach fünf Sekunden. Das Summen von Insekten dröhnte in meinen Ohren und der Duft der Blumen machte mich schläfrig. Die Muster und die Vielfältigkeit dieses Anblickes brachten mich zum Staunen.
"Woooah", fand auch Konnor.
"Wir dürfen nicht hierbleiben! Das sind giftige Blumen. Das letzte Mal hat es uns fast alle umgebracht", warnte uns Finlay und hetzte weiter.
"Wie? Du warst schon mal hier?", ergriff ich sofort die Gelegenheit, mehr über Finlay und Cronan herauszufinden.
"Nicht wirklich, aber diese Blumen kommen an vielen Orten im Wald vor", antwortete Finlay und schleifte Cronan am Ärmel hinter sich her.
"Wie lange wart ihr denn im Wald?", schnaufte ich, und hatte Mühe, mit den anderen Schritt zu halten. Erst als wir bei einem rauschenden Fluss ankamen und Finlay endlich stehen blieb, antwortete er mir. "Ich weiss es nicht genau, mehrere Monate, vielleicht sogar ein Jahr", brummte er.
"Was? So lange? Was ist denn alles passiert?"
Er schaute mich durchdringlich an. "Cronan hat recht, es würde dir nur Angst einflössen, wenn ich dir mehr erzählen würde", meinte er bestimmt und schaute sich nach mehr Blumen um. "Hier sollten wir für eine Weile sicher sein", verkündete er, als er keine entdecken konnte und stellte seine Tasche auf den Boden. Ich selber war in angstvollen Gedanken versunken. Zum ersten Mal glaubte ich nicht mehr daran, je wieder lebendig aus dem Wald zu kommen. Und endlich verstand ich auch, was Vater damals gemeint hatte. Gelichzeitig sank aber auch mein Mut, ihn je wiederzusehen.

"Das Wasser scheint für meiner Meinung nach normal zu sein. Waschen wir uns und füllen die Flaschen auf. Das könnte das letzte gute Wasser für eine Weile sein", befahl Finlay und zog den betrunkenen Cronan aus.
"Hey! Ich bin auch noch hier! Hast du nicht bemerkt, dass ich ein Mädchen bin!", reklamierte ich, als Cronan halbwegs ausgezogen war.
"Schau einfach weg, wenn dir das so wichtig ist", meinte Konnor, der bereits seine Füsse ins kalte Nass getaucht hatte. Verärgert drehte ich mich um und wartete, bis die anderen fertig waren, was eine halbe Ewigkeit zu dauern schien. Vor allem Cronan, der langsam wieder zu sich selbst zurückfand, forderte andauernd, dass ich doch auch reinkommen und Spass mit ihnen haben sollte, da mein Bruder im Gegensatz zu mir noch lange nicht so attraktiv sei. Bei dieser Bemerkung hätte ich ihm am liebsten heftig eine reingehauen, aber ich traute mich nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Als ich endlich an der Reihe war, befahl ich Konnor, dass er Cronan im Auge behalten sollte. Dann zog ich mich aus und vergewisserte mich nochmals, dass auch ja keiner hinschaute. Langsam stieg ich in den Fluss und als mir die Kälte an den Beinen hinaufkroch, biss ich mir auf die Lippen. Zu meinem Glück war der Fluss nicht tief und ich konnte auf dem Grund stehen, denn zu meinem Leid konnte ich nicht schwimmen.
Ich begann, die dicke Dreckschicht abzuschrubben, hielt dann aber plötzlich inne. Im Wasser hatte ich kurz das Spiegelbild eines blonden Mädchens gesehen. "Hallo?", rief ich verwundert und vergass dabei vollkommen, dass die anderen mich hören konnten. "Kleine, können wir wieder hinschauen?", fragte Cronan hoffnungsvoll und wollte sich schon umdrehen. "Nein! Warte, ich bin noch nicht fertig!", konnte ich Cronan im letzten Moment davon abhalten, immer noch den Blick auf das Wasser gerichtet. In der Bewegung der kleinen Wellen sah das Mädchen mich böse an. Es ist gar kein Spiegelbild, dafür ist das Wasser zu unruhig und das Bild zu klar, wurde mir klar. Als ich aber mit den Händen im Wasser danach griff, konnte ich niemanden fühlen.
"Warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt?", sprach das Mädchen plötzlich mit melancholischer Stimme und ich nahm einen Satz vor Schreck. "Fiacre... er kann es nicht sein...du lügst doch immer noch!", weinte jetzt das Mädchen. Was zum Teufel ging hier vor sich? Warum sprach das Mädchen zu mir? Schnell sah ich mich um. Die anderen hatten es nicht gehört, da war ich mir sicher, sonst hätte Cronan schon längst reagiert. Als ich aber wieder ins Wasser blickte, war das blonde Mädchen wieder verschwunden. Was hatte das nur alles zu bedeuten? Wer war das Mädchen gewesen und wer zur Hölle war Fiacre jetzt wieder?
"Bist du bald soweit?", hörte ich Cronan raunen, "es wird langsam sehr schwierig, nicht hinüberzuschauen." "Ich bin fast soweit!", antwortete ich und stieg aus dem Wasser. Der Wald hielt seine Mysterien fest verschlossen und ich verstand immer weniger davon.

KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt