20. Zweifel und Albtraum

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Kaum eine halbe Stunde später prasselte ein warmes Feuer in der Grotte und Wasser köchelte in einem Gefäss darüber. Finlay schien das Mindeste fürs Überleben in seiner Tasche dabei zu haben: Darin waren nämlich noch zwei kleine Feuersteine und andere praktische Utensilien wie Messer verstaut. Finlay erklärte mir, welche der Kräuter gegen das Fieber wirkten und wie ich ihm das Getränk zubereiten konnte. Es war im Allgemeinen eine tolle Sache, da sich Finlay als guter Lehrer erwies und ich eine plötzliche Begeisterung fürs Lernen entdeckte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich in etwas gut war, was durchaus an Finlays Komplimenten liegen konnte. Ein Feuer anzuzünden war eigentlich ganz einfach und Medikamente zuzubereiten machte eine Menge Spass. In der Diebesbande hatte ich mich immer als Versagerin gefühlt, da ich sehr schlecht im Stehlen gewesen war. Es war eindeutig nicht meine Stärke gewesen und von diesem Moment an gab ich mir deshalb selbst ein Versprechen: Ich wollte nicht mehr in die Diebesgilde zurückkehren, sondern ein eigenes, besseres Leben führen. Ich hatte plötzlich Durst nach mehr Wissen und vor allem wollte ich mehr übers Heilen lernen. Dabei machte ich mir heimlich Hoffnungen, dass Finlay mir mehr beibringen würde.
"Nun, dein Trank sieht sehr gut aus, du kannst ihn nun vom Feuer nehmen und ihn abkühlen lassen", erklärte er und ich befolgte sofort seine Anweisungen. Als ich ihm dann kurz darauf das dampfende Getränk reichte, nahm er es dankend an und nippte daran.
"Das ist ganz gut", meinte er und gab es mir zurück. "Trink!"
"Was? Ich dachte, das wäre für dich", erwiderte ich erstaunt.
"Das ist es auch, aber du musst auch ein wenig davon trinken, das würde dir sicher gut tun."
Schweigend trank ich zwei drei Schlucke daraus und ein köstlicher, leicht süsslicher Geschmack breitete sich in meinem Mund aus.
"Und?", wollte er wissen.
"Ganz gut", murmelte ich schläfrig, da mir plötzlich die Augenglieder schwer wurden. Ich schwankte leicht, alles drehte sich in meinem Kopf.
"Leg dich hin, sonst fällst du noch um", hörte ich weit aus der Ferne Finlay zu mir sprechen. Ich drehte mich zu ihm um. "Blllmmmm", war das Einzige, was ich noch aus mir bringen konnte, bevor alles um mich herum schwarz wurde.

Ich flog auf dem Rücken eines riesigen Adlers, weit über den Wolken. Das Geräusch der kräftigen Flügelschläge drang zu meinen Ohren durch. Ich spürte Freude in meiner Brust aufkeimen und wie ein kleines Kind jauchzte ich. Der Adler brachte mich zu den in der Ferne aus den weißen, flauschigen Wolken ragenden Berggipfeln hinüber. Er flog zweimal darum herum und stürzte sich dann mitsamt mir in einen Sturzflug. "Juhu", rief ich voller Freude und der Adler fing sich wieder. Er landete auf einer mit wunderschönen roten Blumen bedeckten Wiese in der nähe eines kleines Wasserfalls. Die Natur war wunderbar, sie brachte meine Kräfte zurück. Neben mir stand nun Finlay, er hatte sich zurückverwandelt, und ich strahlte ihn voller Begeisterung an. "Das war genial!", lachte ich und schlang meine Arme um ihn. "Und was für ein Ort!"
Er lächelte mich an. Es war dasselbe Lächeln, das er mir auf dem Feuersee geschenkt hatte.
"Ich hoffte, dass er dir gefallen würde." Er sah mich mit seinen gelben Augen liebevoll an. Sein Gesicht war meinem unheimlich nahe und ich spürte mein Herz schneller pochen. Seine Lippen berührten meine und ich erwiderte es liebevoll. Die Schmetterlinge in meinem Bauch verwandelten sich zu einem Feuerwerk, das sich in meinem ganzen Körper ausbreitete. Der Kuss wurde heftiger, unsere Körper pressten sich fester aneinander, und ich wünschte mir, dass dieser Moment nie ein Ende finden würde. Plötzlich fühlte ich ein Stechen in meinem Bauch und ich löste mich sofort wieder von ihm, stieß ihn von mir fort. Aus meinem Bauch ragte eine Messerklinge, ein roter Fleck breitete sich auf meinem Hemd aus. "Was ist?", fragte Finlay mich verwundert als sähe er das Messer nicht. Erst jetzt konnte ich sein wahres Gesicht erkennen. Seine Augen glühten teuflisch und sein Kopf nahm wieder die Form eines Adlers an, eines Adlers, der mir wie ein Monster erschien. "Nein", rief ich und der Schmerz wurde grösser.
Er kam immer näher auf mich zu und sein böses Lächeln, das mich auf komische Weise an das Geistermädchen erinnerte, wurde grösser. "Ich liebe dich doch, Keitha!", sagte er eindeutig ironisch.
"Nein", rief ich nun voller Panik. Dann sah ich das Geistermädchen hinter Finlay stehen, die den Kopf schüttelte und lauthals verkündete: "Ich habe dich gewarnt, Keitha, aber du wolltest ja nicht auf mich hören!"

Schreiend erwachte ich aus meinem Traum. Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigen konnte. In der dunklen Höhle war es still und die glutlose, hinuntergebrannte Feuerstelle liess darauf hinweisen, dass ich eine ganze Weile geschlafen hatte. Der Schmerz, den ich in den letzten Tagen hatte erleiden müssen, war wie ein Wunder verschwunden, nur leichte Kopfschmerzen waren übrig geblieben. Als ich aufstand und mich nach Finlay umsah, musste ich feststellen, dass ich mich alleine in der Höhle befand. "Fin?" Blinzelnd trat ich aus der Höhle hinaus, hielt meine Hand abschirmend über die Augen, da ich für eine Weile nicht mehr die Sonne gesehen hatte und mich erst wieder an das grelle Licht gewöhnen musste. Unsere Lage hatte sich nicht verändert, soweit ich es sehen konnte, weil - wie das letzte Mal, als ich nach draussen gegangen war - nur Bäume zu sehen waren. Finlay konnte mich unmöglich allein gelassen haben, daran hatte ich keinen Zweifel. Jedoch konnte ich den Traum, den ich gerade geträumt hatte, nicht aus meinen Gedanken verjagen.
Hatte das Mädchen wohl recht gehabt? War er jemand, dem man nicht trauen durfte? Ein rascheln war zu hören und hinter einem Busch kam niemand anders als Finlay hervor, seine Haare waren feucht und er trug andere Kleider. "Guten Morgen, hast du gut geschlafen?", empfing er mich strahlend wie die Sonne. Er war bestens gelaunt und schien nicht im geringsten mehr krank zu sein. "Gut", log ich ohne lange nachzudenken und musterte ihn verwundert. "Wo warst du?"
"Im Fluss, dort drüben, ich musste mich einfach wieder mal gründlich waschen", antwortete er fröhlich und zeigte mit dem Finger in die Richtung, von der er gekommen war. "Aber... Was ist mit deinem Fieber? Und der Wald? Wie wusstest du, dass du die Höhle wieder finden würdest?"
Sein Lächeln wurde grösser.
"Mein Wundertrank wirkt gut, nicht wahr? Du siehst auch viel besser aus. Wir haben auch etwa zwei Tage lang geschlafen."
"Was? Zwei Tage lang?", unterbrach ich ihn perplex.
"Ja, ich würde es mal schätzen", bestätigte er und nickte dabei." Wir hatten Glück, dass uns nichts geschehen ist während wir schliefen. Aber dieses Risiko war es wert.
Und was den Wald betrifft: Solange du die Höhle sehen kannst und sie nie aus den Augen lässt, kannst du sie nicht verlieren."
Natürlich, auf das wäre ich nie gekommen. Es ärgerte mich auf einmal, dass ich mir gegenüber Finlay so dumm vorkam. Er schaffte es, sich selbst und mich im nu zu heilen, während ich uns beide fast umgebracht hätte und noch nicht einmal in der Lage gewesen war, ein kleines Feuer anzuzünden. "Ahhh", versuchte ich meinen Ärger zu verbergen. Es war nicht seine Schuld, dass ich neidisch auf ihn war und ich wollte meine Wut nicht wie zuvor an ihm auslassen. Vor allem nicht, wenn er wieder so gut gelaunt war.
"Falls der Fluss noch nicht verschwunden ist, kannst du dich auch noch waschen. Ich bereite inzwischen das Essen vor und dann können wir unsere Reise weiterführen."
Ich nickte nur und ging in die Richtung, in die sich der Fluss befand, ohne die Augen von Finlay und der Höhle zu wenden.

KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt