16. Der Feensee

84 13 5
                                    

Es war für mich anfangs schwer gewesen, mit Finalys Tempo mitzuhalten, da dieser zügig an den Bäumen entlang lief, als würden diese einen umbringen, wenn man zu langsam an ihnen vorbei schritt. Mir tat die Schulter weh und bei jedem Schritt schien der Schmerz auch am Bein schlimmer zu werden. Was mich zutiefst verärgerte, war Finlays anscheinende Ignoranz gegenüber meinem Leiden, da ich ihn auch nicht mit dem tiefsten und herzzerreissendsten Stöhnen dazu bringen konnte, wenigstens ein bisschen langsamer zu werden. Natürlich wusste ich, dass er mich hören konnte und es gab sicher einen guten Grund, weshalb er es ignorierte. Er war ja derjenige, der schon mehrere Male an diesem Ort gewesen war.
"Woher weisst du eigentlich, dass du in die richtige Richtung gehst?", wollte ich nach einer halben Stunde mit klagender Stimme wissen. "Wir könnten genau so gut tiefer in den Wald gehen und das wäre dann ja die falsche Richtung."
"Das ist das Rätsel dieses Waldes! Wir können nicht wissen, wo falsch oder richtig ist. Wir müssen einfach weitergehen", antwortete er mit überzeugter Stimme.
Und wie genau machen wir es mit der Nahrung?, schoss es mir trotzig durch den Kopf, als mein Magen auch noch anfing zu reklamieren. Das übriggebliebene Brot war nämlich in Konnors Tasche, die ich - bevor ich gestürzt war - an Cronan weitergegeben hatte. Bei diesem Gedanken ergriff mich wieder das Grauen, weil ich wieder an das Schlimmste, das den beiden möglicherweise zugestossen war, denken musste. Schnell versuchte ich ihn wieder aus meinem Kopf zu vertreiben und an etwas anderes zu denken, was sich hingegen als schwierig erwies.
Ausserdem war ich sehr schlecht gelaunt und es musste vor allem an Finlay liegen. Er war der Adler, hatte mich zuerst entführt, mir dann zwei Mal das Leben gerettet und sich schliesslich erst offenbart. Aber er wollte sich nicht die kleinste Mühe geben, wenigstens ein bisschen mehr Rücksicht auf mich zu nehmen. Das war die eine Sache. Die andere war, dass er mir trotz seiner Erzählungen immer noch sehr mysteriös vorkam. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich immer noch nicht mit der Tatsache klarkommen konnte, dass er der Adler war, der mir diese liebevollen Blicke zugeworfen hatte. Waren es denn wirklich liebevolle Blicke gewesen, oder hatte ich es mir nur eingebildet? War es eher Mitleid gewesen, das er für mich empfunden hatte?
Ich war verwirrt. Einerseits behandelte er mich nicht rücksichtsvoll. Ich konnte mich daran erinnern, dass er den ersten Tag nicht mal zu mir gesprochen hatte, als wäre ich es nicht wert gewesen. Andererseits hatte er mir diese Blicke zugeworfen und mir das Leben gerettet, ohne wirklich einen guten Grund dafür zu haben. Vielleicht veränderte sich auch sein Charakter wenn er seine äusserliche Form wechselte. Immerhin hatte er mir bisher nur als Adler geholfen.
Ich grübelte lange über diese Sache nach, was meine Laune zwar nicht verbesserte, jedoch die Zeit dieser nie endenden Wanderung vertrieb und mich von den grauenvollen Gedanken abhielt.
Erst als Finlay sein Schritttempo verlangsamte, wurde ich wieder in die Realität gerissen und bemerkte, wo wir angekommen waren.
Vor uns lag ein grosser See, dessen stilles Wasser ruhig in der Nachmittagssonne schimmerte, und die Bäume darum lagen so dicht am Ufer, dass das Umwandern des Sees fast unmöglich erschien. "Wir müssen den See überqueren", stellte Finaly fest und musterte das Wasser und das Ufer. "Wie wäre es, wenn wir einfach darüber fliegen?", erwiderte ich in einem skeptischen Ton, da ich nicht im geringsten Lust hatte, ins Wasser zu steigen. "Du kannst dich ja in einen Adler verwandeln und über die Bäume hinwegfliegen. So kommen wir viel schneller aus dem Wald." Erst jetzt merkte ich, wie genial der Plan eigentlich war und es ärgerte mich, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war. Aus der Luft konnte man den Waldrand sicher viel schneller finden.
"Nein, das wird nicht funktionieren. Ich habe das schon versucht und der Wald lässt dich nicht weiter als die Kronen der Bäume kommen. Diese ziehen oder schlagen dich nämlich zurück sobald du ihnen zu nahe kommst, und glaub mir, das ist richtig schmerzhaft", lehnte er kopfschüttelnd ab und fing an, am Ufer hin und her zu gehen, um einen geeigneten Baumstamm zu finden.
"Aber über dem See gibt es keine Baumkronen", versuchte ich Finlay zu überzeugen und ging neben ihm her. "Das kann schon sein, aber du hast das rote Flimmern über dem See sicher bemerkt. Das kann nichts Gutes bedeuten und das Letzte, was ich will, ist unser Tod", murmelte er schon fast genervt und führte seine Suche fort. Als er schliesslich bei einem toten Baumstumpf einen dünnen Baumstamm fand, fasste er mit beiden Händen nach dem verfaulten Holz, schleifte es bis zum Wasser und liess es platschend hineinfallen.
"Nach dir", sagte er höflich und reichte mir die Hand,  sodass er mir behilflich sein konnte, auf dem verfaulten Holz Platz zu nehmen. "Ähhh...", stotterte ich nervös und scharte mit dem linken Fuss auf dem Boden. Ich konnte Finlays verwunderter Blick in meinem Nacken spüren.
"Ich kann nicht schwimmen", erklärte ich scheu. "Können wir wirklich nicht den Luftweg nehmen?"
"Nein, es ist sicherer so und das macht nichts, da du nicht schwimmen musst", versuchte er mich mit einem weichen Ton zu beruhigen, was aber meine Angst nur verschlimmerte. "Was ist, wenn ich aber ins Wasser falle? Der See scheint sehr tief zu sein...", entgegnete ich ihm.
"Dann rette ich dich. Keine Angst, ich lass dich schon nicht ertrinken", meinte er und klang meiner Meinung nach zu freundlich. Wieder einmal fühlte ich das Kribbeln in meinem Magen und ich gab meiner Angst die Schuld dafür. Finlay konnte mich nicht verstehen, da er anscheinend nicht begreifen wollte, wie sehr ich mich vor dem Wasser fürchtete.
Dennoch erwiderte ich nichts mehr, ergriff Finlays Hand und stieg auf den glitschigen, stinkenden Baumstamm, der mit meinem Gewicht ein Stück tiefer ins Wasser sank. Meine Beine baumelten im kühlen Nass, welches mir bis zum Becken reichte.
Finlay nahm hinter mir Platz und der Baumstamm wurde dadurch weitere fünfzehn Zentimeter tiefer ins Wasser gedrückt und ich klammerte mich noch fester daran. Zwar war dieser zwischen meinen Beinen stabil genug, nicht noch tiefer zu sinken, aber der Baumstamm konnte jederzeit anfangen sich zu drehen und mich damit in den Tod werfen.
"Ist alles in Ordnung mit dir?", vergewisserte Finlay sich sorgenvoll bei mir und ich konnte nur stumm nicken. Finlay stiess uns mit einem Stock vom Ufer ab und fing an damit zu paddeln. Wir schienen kaum vom Fleck zu kommen, was mich nur noch mehr verängstigte. Bald würde ich es nicht mehr aushalten können, das war auf jeden Fall klar. "Sieh nicht ins Wasser, sondern irgendwo anders hin, das wird dir helfen", flüsterte Finlay mir ins Ohr. Scheinbar hatte er bemerkt, wie angespannt ich dasass und wollte mich wieder aufmuntern. Ich nahm einen tiefen Atemzug und legte meinen Kopf in den Nacken, sodass ich meine Augen dem Himmel und der Sonne zuwandte. "Woah", staunte ich, da der Himmel wie vom Feuer ergriffen in der Ferne rot glitzerte. "Was ist das?", fragte ich Finlay, der nun auch meinem Blick folgte. "Ich kann es nicht sagen, es ist zu weit entfernt", antwortete er mir und paddelte weiter. "Aber es muss ein Schwarm sein, es hat Tausende von denen." Tatsächlich bewegte sich das Glitzernde und ich konnte auch ein klingelndes Surren wie von vielen kleinen Flügeln hören. Vielleicht hatte Finlay recht gehabt: Wenn wir geflogen wären, hätten wir durch den Schwarm hindurchfliegen müssen und wer wusste schon, was hätte passieren können. "Auh!" Auf einmal fühlte ich ein stechendes Brennen an meinen Beinen und als ich wieder ins Wasser starrte, sah ich, dass dieses - wegen eines rötlichen Pulvers, das an der Oberfläche schwamm - rot gefärbt war. Wie Seerosen war das Wasser von zwar wunderschönem, aber anscheinend brennendem, glitzerndem Pulver bedeckt.
Aus der Mitte des Sees ragte eine Art rote Stange aus dem Wasser, um welche kleine rote Kreaturen schwirrten. Es waren kleine Männchen und Weibchen - nicht grösser als ein Daumen - die rot angezogen und allesamt mit roten Haaren, an ihrem Nest - die rote Stange - herumbastelten. An dessen Rücken ragten glitzernde Insektenflügel heraus, die bei jedem Flügelschlag ein schwaches Klingeln von sich gaben. "Sind das Feen?", wollte ich wissen und erinnerte mich an eine der Geschichten, die mir mein Vater über diese Kreaturen erzählt hatte. "Ja, ich glaube das sind Feuerfeen. Die können dich in Flammen aufgehen lassen, wenn sie verärgert sind." "Und was ist das brennende Zeug da?" Ich deutete auf das Pulver. "Feenstaub. Das kann ebenfalls in Feuer aufgehen. Damit verteidigen sie sicher ihr Nest dort drüben." Der Schmerz an meinen Beinen verschlimmerte sich und ich fragte mich, ob wir etwas dagegen tun konnten. Ich hatte nämlich ein schlechtes Gefühl bei diesem Pulver, vor allem weil es in meine Wunde am Bein drang.
Ausserdem näherten wir uns immer mehr dem Nest, und mir kam es fast schon so vor, als würde Finlay uns in den Selbstmord führen wollen. "Geh nicht zu nahe ran", wisperte ich voller Panik und klammerte mich wieder enger an den Baumstamm. Finlay zog zur Antwort an einer meiner Haarsträhnen. Was sollte das denn wieder werden?, dachte ich verärgert und ignorierte das Ziehen und Zupfen. Es verschlimmerte sich aber und mehrere Strähnen erlitten dasselbe Schicksal. "Hör auf!", schnauzte ich ihn an und drehte meinen Kopf verärgert zu ihm um. Ich stellte jedoch fest, dass es nicht Finlay gewesen war, der mir die Haare gezogen hatte, sondern die Feen. Von allen Seiten kamen diese Viecher angeflogen und versuchten, ein Stück meines Haares zu erbeuten. Zu meinem grössten Erstaunen prustete Finlay hinter mir vor lachen und konnte sich kaum mehr auf dem Baumstamm halten. Der sonst immer seriöse Finlay lachte! Und dieser Anblick war so aussergewöhnlich und zugleich verlockend, dass meine Angst und schlechte Laune wie der Wind verflogen. "Hilf mir lieber", raunte ich ihm in dem Versuch, beleidigt zu klingen, zu und wedelte mit den Händen nach den Feen, um sie von meinem Haar zu vertreiben. Ich konnte mich aber nicht von einem Lächeln abhalten. Mit Tränen in den Augen versuchte Finlay nach den Feen schlagend meinem Beispiel zu folgen, verfehlte aber sein Ziel und erwischte mein Gesicht an dessen Stelle. Das war nun zu viel für uns beide. Lauthals brachen wir in Gelächter aus und es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns wieder beruhigen konnten, da sich nun fast der ganze Feenschwarm bei meinem Haar versammelt hatte, daran zog und mich wie ein Igel aussehen liess.
"Warum stehen sie so auf mein Haar", gluckste ich voller Erschöpfung. "Sie stehen auf rote Sachen, da kannst du ihnen nicht böse sein", lachte Finlay und zum ersten Mal konnte ich so etwas wie Vergnügen in seinem Gesichtsausdruck erkennen.
"Sie lassen nicht locker! Wie kann man sich diese frechen Dinger nur vom Hals schaffen?" Er versuchte wieder nach einer der Feen zu greifen. Dann lächelte er mich an und unsere Blicke trafen aufeinander. Sein Lächeln, seine Augen - auf einmal bemerkte ich, dass Finlay ein schöner Mann war. Das Kribbeln war zurückgekehrt und ich war mir sicher, dass sich Schmetterlinge in meinem Bauch verirrt hatten und nun Wärme in meinem ganzen Körper aufglühen liessen. Es verschlug mir wie schon vor ein paar Tagen den Atem. Dieses Gefühl, warum habe ich nur dieses seltsame Gefühl?, fragte eine Stimme in meinem Kopf immerzu. Jedoch hatte ich keine Zeit mehr, mir Gedanken darüber zu machen, denn auf einmal schlug etwas auf den Baumstamm ein und wir rollten seitlich, mit einem grossen Platschen ins rote Wasser hinein.

KeithaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt