Neue Blickwinkel

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~Zuvor~

Sie stand auf der Borde des Schiffes und genoss die forsche Briese des Windes. Nur mit einer Hand hielt sich das namenlose Mädchen an der Leine fest, die zum mittleren Mast des 1-Mast Segelschiffs, führte.
Langsam erhob sich das Schiff in den Himmel und sie genoss die Wärme, der Sonne auf ihrer Haut.

»Schön nicht wahr?«, sagte Ackermann welche auf der gegenseitigen Borde stand und sie grinsend ansah.
Das namenlose Mädchen nickte lächelnd und ließ ihren Blick über das Schiff streifen.
Alle Sturmjäger waren damit beschäftigt, das Segel perfekt auszurichten und die Leinen festzuschnüren, während die Lichtjäger auf der Borde auf ihren Einsatz warteten.
Als sie die geforderte Höhe nach wenigen Minuten erreicht hatten, gab Kommandant Leonhardt am vorderen  Rumpf das Zeichen. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, ließen sich die Lichtjäger nach einander von der Borde fallen und breiteten die Arme aus, um den wichtigen Auftrieb ihrer Gleitjacken zu erhalten.

»Augenbinde! Bleib stets in der Nähe der Borde.«, rief Ackermann ihr zu. Das namenlose Mädchen nickte und glitt neben dem Schiff hinterher. Es war wahrlich ein beeindruckendes Freiheitsgefühl. Sie genoss den Ausblick auf die Wolkendecke unter ihnen, dann aber hob sie den Kopf um die Lichtjäger bei ihrer Arbeit zu beobachten.

Sie sah, dass diese geradewegs auf den aufziehenden Sturm zu hielten. Schon bald verschwanden ihre Körper in den Dunklen-Wolken, zwischen denen man Blitze aufleuchten sah.
Auf einmal spürte sie eine seltsame Unruhe in ihrem Inneren und sie verspürte den Drang ebenfalls durch die dunkle Wolkendecke zu brechen, doch die Stimme des ersten Kommandanten holte sie zurück in die Realität.
»Augenbinde! Was machst du da?! Komm sofort zurück an die Borde. Du bist keine vollwertige Lichtjägerin!«

Wie aus Trance erwacht, starrte sie nach hinten und bemerkte, dass sie sich gefährlich weit vom Kiel des Schiffes entfernt hatte. Sofort realisierte sie ihren Stand und zog das Manövrier-Gerät aus seiner Halterung, sie zielte auf den Kiel des Schiffes und zog sich anschließen an dem Seil des Widerhakens zurück zur Borde.

»Was hast du dir dabei gedacht?! Du hast dich ganze 30 Ellen vom Kiel entfernt! Hast du den Verstand verloren, Kind?!«, Leonhardt sah sie verärgert an, doch sie war mit den Gedanken ganz woanders.
Was war es nur, was sie so angezogen hatte, in diesen Wolken?
Sie wich seinem Blick aus und blickte wieder in die dunkle Wolkendecke, die durch Blitze durchzuckt wurde.
»Augenbinde?!«
Das Mädchen zuckte zusammen und richtete endlich ihre Aufmerksamkeit auf ihren Kommandanten.
»Ja! Entschuldigen sie, ich weiß nicht was heute mit mir los ist.«
»Ich auch nicht.«, entgegnete er trocken, »...warte an der Borde auf die anderen und hilf wenn jemand nicht den Kiel trifft.«, gab er ihr als Einweisung und schritt anschließend unter Deck.

Das Mädchen tat wie ihr gesagt, konnte den Blick von der Wolkendecke aber nicht abwenden. Es zog sie magisch an.
Doch je länger sie in den Sturm sah, desto stärker spürte sie ein Jucken in ihrem verbundenen Auge. Es wurde immer stärker und sie hielt es nach kurzer Zeit schon nicht mehr aus, weshalb sie die Augenbinde abschnürte und über das geschlossene, vernarbte Lid strich. Das Jucken verschwand nicht und schlussendlich öffnete sie das Lid, welches sie seit Jahren geschlossen hatte.

Urplötzlich veränderte sich ihre Sicht. Das Bild verschwamm, leuchtete in Farben auf die sie noch nie gesehen hatte und es ward als hätte jeder Gegenstand und jeder Mensch eine eigene Aura, die in ganz neuen Farben aufleuchtete.
Wie in Trance schloss sie das gesunde Lid und sah bloß noch die Sicht der vernarbten Iris.
Sie sah etwas Lila-farbenes auf sie zu kommen.
»Augenbinde?«, die Stimme klang besorgt.

Kommandant Leonhardt packte das Mädchen gerade noch, als dieses drohte von der Borde zu fallen und zog sie auf den Rumpf des Tjalk-Schiffes.
Das Mädchen verlor den Halt ihrer Beine und sank in die Arme des ergrauten Mannes.

Lumière (Deutsch) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt