Kapitel 3

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»Wo willst du denn hin?«, fragte mich Mira unvermittelt, als sie bemerkte, dass ich verschwinden wollte und hielt mich eisern an der Schulter fest. »Du willst doch jetzt keinen Rückzieher machen, oder? Ich sehe es in deinen Augen! Du willst kneifen. Vergiss es. Ein Neuanfang ist besser, als du denkst. Es bringt nichts wieder umzukehren? Was machst du dann? Dann stehst du irgendwann wieder hier. Willst du das?« Mein Blick senkte sich auf den Boden. Dabei starrte ich auf meine Chucks und atmete tief ein. Verbissen hielt ich den Griff meiner Gitarrentasche fest umklammert und kaute hart auf meiner Unterlippe herum.

»Darf ich dich fragen, weshalb du wirklich von zu Hause weg bist? Wenn du mir eine Antwort gibst, dann eine ehrliche. Wenn nicht, ist das für mich auch in Ordnung«, erwiderte das hübsche Mädchen vor mir und ich riss meinen Kopf automatisch nach oben. Der Wind, der hier wehte, ließ kleine Härchen aus meinem Zopfhalter rutschten und mir ins Gesicht streifen. Unvermittelt glitt meine Hand über meinen Kopf, aber sie lagen schnell wieder auf meiner Stirn. Keine Ahnung was ich sagen sollte. Ich mochte es nicht so gern, über das zu reden, was mich tatsächlich beschäftigte... dass ich eigentlich allein war.

Meine Tante versuchte mir immer alles möglich zu machen, aber sie war nie der Ersatz für meine Familie. Niemals. Das wusste sie. Das wusste ich. Mit dem Verlust meiner Eltern und meiner Schwester wurde ich nicht fertig und ich wollte auch kein Mitleid; von niemandem, aber irgendetwas sollte ich ihr sagen. Auch wenn wir uns nicht kannten, wollte ich das. Einen Moment starrte ich an ihr vorbei, an eine der Tafeln, auf der die Flüge in andere Länder standen. »Ich brauche tatsächlich einen Neuanfang.«

Mira fuchtelte mit ihren Händen vor meinen Augen herum und ich schaute ihr im Anschluss direkt ins Gesicht. »Das ist mir klar. Aber weshalb brauch jemand in unserem Alter einen Neuanfang?«, fragte sie eher zu sich selbst. »Was ist mit deiner Familie. Deine Mutter wird doch sicher nicht erfreut sein, wenn du auf einmal so verschwindest und auch wenn es nur wegen einem Kerl ist. Der ist es doch nicht wert. Oder wissen sie Bescheid? Ich mein ja nur. Klar ist ein Neuanfang gut, aber erstens solltest du vorher die Dinge klären und zweitens dir wirklich sicher sein, dass du das auch willst.«

Ich schluckte meine Trauer herunter, ballte die Hände zu Fäusten und rückte mich innerlich zurecht. »Ich habe keine Familie mehr. Sie sind tot. Und falls du fragst: Ich will nicht darüber reden. Es ist schon schwer genug. Ich will nur irgendwo anders hin. Nicht mehr hierbleiben.« Mira nickte schnell, aber selbst ich bemerkte, dass sie sich einen Moment unwohl fühlte. »Aber sicher bist du dir auch nicht. Du kneifst gerade. Jetzt hast du die Möglichkeit. Guck mal: Ich stehe hier. Ich könnte dir helfen, wenn du willst. Zumindest würden wir das schon irgendwie hinkriegen. Ich weiß, dass du mich nicht kennst. Nun erst vier Stunden, aber es ist doch besser als nichts. Ein Anfang. Außerdem bin ich dann nicht so allein, wenn du mit mir fliegst. Also wenn du das Geld dafür hast, mein ich.«

Sie strich sich eine braune Locke hinter das Ohr und henkelte sich unter meinen Arm. Anbei klemmte sie sich meine Gitarre auf die Schulter und zog mich mit sich. »Ich weiß nicht so recht. Ich habe eher an die Schweiz oder so gedacht. Aber Amerika?«, sprach ich zögerlich. »Das ist schon ziemlich weit weg« und es lachte neben mir: »So viel nimmt sich das auch nicht. Das eine ist halt weiter weg, das andere näher dran, aber beides ist nicht mehr in der Nähe deiner Heimat. Also ist es doch eh egal. Und New York ist echt toll.« Auf der Stelle schwärmte sie davon und zog mich zu einem Terminal. »Und verdammt teuer«, sprach ich meine Gedanken laut aus.

»Ach na ja. Überall gibt es Vor- und Nachteile. Ich habe mein Ticket schon. Du müsstest dir eines kaufen« und Mira schob mich zu einer Frau, die an einem Schalter stand. Sie musterte mich argwöhnisch. als sähe sie gleich, dass ich nicht von hier war. Sah man mir das so deutlich an oder lag es an meinem Zögern? »Wo wollen sie hin?«, fragte sie direkt. »Hier!«, mischte sich Mira mit ein und legte ihr Flugticket auf den Tresen ab. Aufgeregt rief sie: »Dasselbe bitte noch einmal.«

Perfect Disaster I - Ein Arschloch zum VerliebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt