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Ich hörte nur noch Schreien. Ihre Worte, ihr Ton hallten in meinem Schädel umher.
Das letzte bisschen in mir starb. Das Lernen war längst vergessen.
Ich hörte nur das Piepsen der Tasten die sie am Telefon betätigte und das Klingeln von ihm. Ich konnte nicht verstehen, wie man sich stundenlang pausenlos anschreien konnte.
Übelkeit überkam mich. In meinem Magen zog sich alles zusammen, in meiner Brust ebenfalls. Ich musste mich anstrengen um normal zu Atmen. Eine eisige Kälte umgab mich.
Ich wusste nicht, was ich tun könnte. Was ich ändern könnte. Nichts.Ich saß nur dumm da, wie immer.
Ich fragte mich, wieso. Mir war wohl bewusst, dass es Leute gab, denen es schlechter ging als mir, das will ich niemals bestreiten.
Ich finde mein Leben langweilig und nutzlos. Wirklich, ich habe es nicht verdient zu leben.
Ich schnappte meinen schwarzen Mantel, zog mir irgendwelche Schuhe über und verschwand aus meiner persönlichen Hölle.
Ich lief die dunklen Straßen entlang. Wohin genau, keine Ahnung. Ich lief einfach, in meinen Gedanken versunken, alles um mich herum nicht beachtend.
Irgendwann kam ich bei einem Park an und beschloss, mich auf eine Bank zu setzen. Ich war zu erschöpft, von allem.
Ich tat nichts weiter außer Starren. Ich starrte den weißen Schnee an,der trotz der Nacht glitzerte. Ich mochte Schnee, er war wunderschön und wenn es schneite, hatte es auf mich eine beruhigende Wirkung.
Aber es schneite nicht.
In meinem Kopf hallten immer noch die Stimmen und das Klingeln des Telefons. Ich versuchte, mich auf den Schnee zu konzentrieren und blendete alles um mich herum aus. Ich musste mich beruhigen, aber beim besten Willen, konnte ich nicht.
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah herauf und sah einen Jungen, vielleicht etwas älter als ich, mit blonden Haaren, blasser Haut und schmalen Augen. Augenringe zierten sie.
Ich sah ihn fragend an, da ich nicht gehört habe, was er davor gesagt hatte. ,,Darf ich mich zu dir setzen?", fragte er. Seine Stimme hatte etwas beruhigendes. Ich nickte und rückte ein wenig zur Seite,damit er sich hinsetzen konnte, und betrachtete weiterhin den Schnee.Es war mir ein Rätsel, warum er neben mir sitzen wollte, obwohl es in dem Park tausend andere Sitzbänke gab.
Vielleicht wollte er sich nicht so allein fühlen.
Vielleicht war es nur ein Zufall.
Eine Weile verging, und die Schreie und Töne hallten weiterhin in meinem Kopf. Sie wurden so intensiv, dass ich erneut anfing, zu zittern.Doch ich beachtete es nicht. Ich konzentrierte mich auf jede kleine Stelle des Schnees. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass es beruhigt, wenn man sich auf eine Sache in seinem Umfeld konzentriert.
,,Ist dir kalt?", riss mich die sanfte Stimme erneut aus meiner Hölle.Ich schüttelte den Kopf, sah ihn nicht an. Ich wollte nicht, dass Menschen mir ins Gesicht sahen. Ich konnte Menschen nicht einschätzen.
Ich hörte, wie er seine Jacke aufzumachen schien und wenig später fühlte ich den warmen Stoff auf meinen Schultern.
Ich schaute überrascht zu dem Jungen neben mir, der mich anlächelte.
Sein Lächeln war gebrochen, aber es war echt.
Ich lächelte gleichermaßen zurück und murmelte ,,Danke."
,,Wie heißt du?", fragte er mich. ,,Alice.", antwortete ich leise. Meine Stimme war verschwunden. ,,Und du?", ich sah ihn an. ,,Manuel. Aber nenn' mich Manu.", er sah mich ebenfalls an.,,Ist alles in Ordnung?", fragte er vorsichtig. Ich setzte an um zu antworten, doch er unterbrach mich: ,,Lass mich das umformulieren.Ich weiß was du jetzt sagst, ich sehe, dass es dir nicht gut geht,willst du darüber reden?". Verwundert sah ich ihn an und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. ,,Weißt du, reden ist besser als alles in sich tragen zu müssen. Außerdem kenne ich dich gar nicht,also kann ich mit dem was du sagst nichts anrichten. Und ich bin bestimmt der letzte Mensch, der dich verurteilen würde.",ermutigte er mich. Ich war mir nicht sicher, das letzte mal, dass ich jemandem vertraut habe, war drei Jahre her. Andererseits hatte er Recht. Ich hatte seit diesen drei Jahren mit niemandem mehr über alles geredet.
,,Ich musste nur Weg von Zuhause, um eine Panikattacke zu vermeiden.",erklärte ich ihm knapp. Er nickte verständnisvoll. ,,Bei mir so ähnlich. Habs auch nicht mehr ausgehalten", gab er zu. Ich lächelte ihn an, es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte,das jemand mich wirklich verstehen würde. Obwohl er meine Situation nicht genau kannte.
,,Warum weinst du?", fragte er und ich zog eine Augenbraue hoch. Verwirrt fasste ich an meine Wange und sie war tatsächlich nass.,,W-Woah, das ist mir nicht mal aufgefallen", murmelte ich. Manu lachte.
Und ich könnte schwören, nichts in der Welt hörte sich so ehrlich an.
Ich musste grinsen. Ich hatte vergessen, wie es sich anfühlt, zu grinsen. Es war ein schönes Gefühl.
Er verstummte und sah kurz auf die Uhr. Ich hätte auch gerne eine, ich hatte keine Ahnung wie lange wir schon hier saßen.
,,Ich muss wieder gehen.", er stand auf und ich seufzte in den Ärmel seiner Jacke, die ich mir mittlerweile ganz angezogen habe. ,,Es war schön, dich kennen zu lernen. Hoffentlich sieht man sich bald wieder.". Ich lächelte nur und nickte. Manu drehte sich um und lief aus dem Park. ,,Hey, Manu, deine Jacke!", schrie ich, schon viel zu spät. Verdammt. Ich fühlte mich schlecht, ihm war bestimmt auch extrem kalt, und ich saß hier mit seiner Jacke.
Irgendwie beruhigte mich dieses Stück Stoff.

       

Ich hatte beschlossen, nicht nach Hause zu gehen. Dort würde ich nur wahnsinnig werden. Ich stand auf und schliff meine Beine durch die dunklen und kalten Straßen der kleinen Stadt in der ich lebte. Es war kein weiter Weg vom Park zur Bar die meinem Bruder gehörte.
Mein Bruder und ich konnten nie etwas miteinander anfangen. Ich mochte seine Art ebenso wenig wie er meine Art mochte. Wir unterhielten uns ab und zu, aber es schien eher, als seien wir einfach nur irgendwelche Klassenkameraden. Scherze gab es selten. Manchmal, aber selten.
Naja,was soll ich sagen, er hatte eine eigene Bar, die Frauen lagen ihm zu Füßen und er hatte einen Haufen Geld. Warum sollte er sich da um Geschwister kümmern.
Ich seufzte bei den Gedanken und drückte vorsichtig die Glastür auf.
Ein unangenehmer Geruch von Alkohol, Schweiß und Trostlosigkeit kam mir entgegen, weswegen ich meine Nase in Manu's Jacke vergrub und deren Duft inhalierte.
Er beruhigte tatsächlich.
Ich lief mit gesenktem Blick zur Theke und wie sollte es auch anders sein, schaffte ich es, gegen jemanden zu laufen und auf den Boden zufallen.
Super.
Ich sah vorsichtig herauf und sah, wie ein junger Mann mit dunklen Augen und noch dunkleren Haaren mich von oben bis unten musterte, bevor er mir seine Hand hinhielt.
Wie ich es hasste.
Ich ergriff dankend seine Hand und zog mich hoch. ,,Tut mir Leid",murmelte ich. Er winkte ab. ,,Schöne Jacke.", sagte er grinsend und lief weiter.
Was war das?
Ohne mir weiter den Kopf zu zerbrechen, der eh schon zerbrochen war, lief ich zu meinem eigentlichen Ziel und ließ mich auf einen Hocker fallen.
,,Oh,hey Alice.", begrüßte mein Bruder mich.
,,Hey Brüderchen. Du has-" ,,Nicht zufällig noch ein Zimmer frei?Für dich doch immer.", grinste er. Ich hob verwirrt eine Augenbraue. ,,Woher die Freundlichkeit? Hattest du Sex?", fragte ich ihn verwundert und er schüttelte nur lachend den Kopf, bückte sich und wühlte eine Weile in einem Schrank herum, bevor er wieder aufstand und mir einen Schlüsselbund in die Hand drückte. ,,Der Wagen steht da, wo er immer steht." ,,Du hast mehr als regelmäßig Sex, kann das sein?" ,,Alice, misch dich bitte nicht in mein Leben ein.", er grinste gemein und ich seufzte nur. Ich wünschte, er wäre mal so gut drauf, wenn ich gute Laune hatte. Denn gerade war mir echt nicht danach.
Ich verschwand wieder aus der Bar und lief um die Ecke, zum schwarzen Wagen meines Älteren Bruders. Eigentlich hatte ich noch keinen Führerschein. Eigentlich. Aber mein Bruder hatte mir vor einigen Jahren beigebracht, Auto zu fahren, in seiner Rebellen-Phase, in der er meine Eltern einfach nur aufregen wollte.

Konnte mir nur Recht sein.

Ich ließ mich auf den Fahrersitz nieder und atmete tief durch, bevor ich den Wagen startete und zum Haus meines Bruders fuhr. Ich hatte bisher wirklich jedes mal Glück und wurde noch nie von Beamten angehalten.

Dort angekommen parkte ich seinen Wagen in der Garage und lief ohne Umschweife in das"Gästezimmer" was eigentlich schon mein Zimmer war, weil 1. alles voll war mit meinen Sachen und 2. sowieso niemand anderes dort schlief. Seine Frauen schliefen ja alle bei und mit ihm.

Ich zog Manu's Jacke aus und ließ mich mit ihr auf das Bett fallen. Ich schloss meine Augen und vergrub mein Gesicht in der warmen Jacke. Zu meiner Erleichterung hatte die Bar nichts an dem Geruch der Jacke geändert.
Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie wir uns heute getroffen hatten. Ich freute mich, wirklich, dass jemand sich einmal für mich interessierte. Wenn auch nur aus Höflichkeit. Wenn ich genau darüber dachte, hatte er mich aufgefordert, mit ihm zu reden.
Normalerweise,wenn ich zu Leuten sagte, dass nichts ist, ließen sie mich auch einfach in Ruhe.
Aber diese Leute waren nicht Manu. Ihnen hätte ich sowieso nichts gesagt und denen war sowieso alles was nichts mit ihrem Leben zu tun hatte,egal.
Seine blauen Augen brannten sich in mein Gedächtnis ein, und statt der Klänge des Telefons und den Schreien meiner Mutter, hallte sein ehrliches Lachen an den Wänden meines Kopfes.

Fuck sleep. [Sierra Kidd Fanfiction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt