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Manu bestand darauf, mich nicht loszulassen. Und so kam es, dass ich noch einige Zeit weiter in seinen Armen lag. Ich war müde, viel zu müde. Nachdem er mich umarmte, hatte ich ihm alles erzählt. Alles, was mich bedrückte, alles aus meinem Leben. Ich fühlte mich sicher, so sicher wie noch nie. Ich redete einfach und er hörte zu, und es war ein schönes Gefühl, ein befreiendes, jemandem etwas zu erzählen und zu wissen, dass er der letzte Mensch wäre, der dich verurteilen würde.
Nun war es still. Wir saßen einfach da und starrten den Schnee an, wie er funkelte.

,,Du hast das alles sowas von nicht verdient.", brach Manu die Stille. ,,Du kennst mich doch nicht mal.". Manu musste lachen. ,,Ich bezweifle, dass du jemandem auch nur irgendwas antun könntest." Ich lächelte, auch wenn es mir schwer fiel. ,,Und was, wenn doch?", fragte ich leise. ,,Das glaube ich nicht." ,,Vielleicht bin ich ja nicht ganz so unschuldig, wie es scheint.". Natürlich war das Schwachsinn, was ich von mir gab. Aber es war interessant zu testen, wie überzeugt Manu von seiner Meinung war.

Manu lachte. ,,Du bist einfach nur verdammt schlecht im Lügen", sagte er und ich konnte sein Grinsen heraus hören. Ich musste leicht lachen. ,,Das stimmt gar nicht, ich habe schon oft gelogen, ohne dass es jemand merkte.", sagte ich absichtlich kindisch. Erst im nach hinein ist mir aufgefallen, dass meine Ironie nicht den gewünschten Effekt erzielte.
Ich hätte mir ins Gesicht schlagen können. Das ist bestimmt der beste Weg, um Vertrauen aufzubauen. Hast du wieder toll gemacht, Alice.
,,Ach ja, zum Beispiel?", fragte er amüsiert. ,,Zum Beispiel sage ich jeden Tag das alles okay ist und die Leute kaufen es mir ab." ,,Das kann ich auch.", sagte er. Ich löste mich von seiner Umarmung und sah ihm in seine Augen.
Ich würde nie wieder solche Augen sehen, da war ich mir sicher.

,,Wir reden ständig nur über mich, was ist eigentlich mit dir?", fragte ich ihn. ,,Was heißt ständig, wir reden erst seit zwei Tagen.", sagte er grinsend.
Und trotzdem kam es mir vor, als kenne ich ihn länger.
,,Trotzdem.", sagte ich. Er zuckte nur mit den Schultern. ,,Mir geht es in der Schule nicht besser als dir. Mittlerweile hat es sich gelegt, aber die Leute haben dennoch diese abwertenden Blicke, die sie mir zuwerfen. Manchmal sitzt man dann da und fragt sich, was zur Hölle man falsch gemacht hat.", erklärte er. ,,Ich versteh", sagte ich und legte vorsichtig meine Hand auf seine Schulter. Manu sah vom Boden herab, mit seinen blauen Augen, direkt in meine Seele.
Er lächelte.
,,Und ich glaube dir, dass du das tust.", sagte er. Ich musste auch lächeln.

Es wurde schon viel zu spät und Manu und ich einigten uns darauf, uns Morgen hier wieder zu treffen. Er wollte gerade in die Entgegengesetzte Richtung gehen, als ich ihn am Handgelenk packte und ,,Warte bitte", rief. Er drehte sich zu mir und sah mich fragend an. Ich sah auf den Boden und wurde rot. ,,Ich- Ich weiß das ist bescheuert und so- aber eh-", ja, ich war in solchen Situationen eindeutig zu schüchtern. Ich biss mir auf die Lippe, seufzte und ratterte die nächsten Worte herunter:,,KönntestdumichbittebegleitenichhabeAngst". Manu lächelte und nickte. ,,Selbstverständlich.", sagte er, bevor er einen Arm um mich legte und mit mir loslief. Ich sah ihn fragend an.
,,Damit sich die Leute von dir fern halten. Das funktioniert, glaub mir.". Ich wusste zwar nicht, was genau einen aggressiven oder betrunkenen Menschen an einem Arm um meiner Schulter davon abhalten würde, uns näher zu kommen, aber ich beließ es einfach dabei, und lief stumm mit Manu die Straßen entlang zu mir nach Hause.
Und sein Arm bewirkte wirklich Wunder. Nicht nur, dass ich mich sicher fühlte, abgeschirmt von allem übel, sondern dass tatsächlich einige betrunkene Jugendliche von mir absahen, sobald sie Manu's Gesicht sahen. Warum auch immer. Irgendwie war es mir auch egal, Hauptsache keiner kam mir zu nahe.
Ich blieb vor dem Haus, das ich liebevoll meine persönliche Hölle nannte, stehen und Manu löste seinen Arm von meiner Schulter. ,,Bis Morgen.", flüsterte ich, bedacht darauf, meine Eltern nicht zu wecken. Wer weiß. ,,Bis Morgen. Halte durch Morgen. Du schaffst das.", ermutigte er mich, bevor er mir ein letztes Mal sein Lächeln schenkte, sich seine Kapuze aufzog und in der Dunkelheit verschwand. Ich sah ihm hinterher, bis die Dunkelheit ihn endgültig verschlang, und dachte über seine Worte nach.
In der Schule müsste ich die Leute wieder sehen.
Ich kletterte auf den Baum der natürlich klischeehaft perfekt seine Äste in der Nähe meines Zimmerfensters ausbreitete, was mir natürlich schon so einige Ausbrüche begünstigte.
Ich stieg durch das Fenster und schloss es, nachdem ich mir die Schuhe von den Füßen streifte. Danach ließ ich mich auf mein Bett fallen.
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Und so vergingen die nächsten zwei Wochen. Jeden Tag durchlebte ich nur, weil ich wusste, wenn er vorbei war, würde ich aus dem Fenster steigen und für einige Stunden alles vergessen. Und das war es wert. Die Schikanen meiner Mitschüler, die Situation Zuhause, das alles auszuhalten war es Wert, denn ich wusste, wenn es vorbei ist, komme ich zu jemandem, der mich versteht und nicht verurteilt.
Ich saß erneut auf der Bank, wo ich auch schon vor zwei Wochen gesessen bin, ich zog meine Knie an mich und stützte meinen Kopf an ihnen ab. Ich sog den Duft von Manu's Jacke, die ich jeden Tag anhatte, ein. Jeden Abend zwang ich ihn, sie anzuziehen, er gab mir seine andere Jacke, damit mir nicht kalt wurde und vor dem Haus gab er mir die Jacke die er mir geschenkt hatte wieder. Es ist deutlich kälter geworden, aber es störte mich nicht. Kälte war schön, Schnee war schön.
Ich sah auf die Uhr. Eine Stunde sitze ich schon hier, doch keine Spur von Manu. Ich versuchte meine negativen Gedanken zu beruhigen indem ich mir einredete, dass er vielleicht einfach noch was zu tun hat, oder endlich mal schlafen gegangen ist. Manu hatte mir viel von ihm erzählt, und man könnte meinen, wir hatten beide beinahe die selbe Situation. Der einzige Unterschied zwischen beiden Horrorszenarien war dass Manu's Situation sich gebessert hatte und meine immer schlimmer wurde. Ich seufzte und betrachtete den Schnee, der langsam vom Himmel herabfiel. Irgendwie hatte die ganze Szene etwas Märchenhaftes, es sah unfassbar schön aus wie der Schnee herabrieselte, während es um mich herum komplett ruhig war und die gesamte Welt in weiß gehüllt.
Ich wartete noch zwei Stunden, bevor ich mich entschloss, wieder nach Hause zu gehen. Manu erschien nicht und ich war ein bisschen traurig. Seufzend erklomm  ich wieder den Baum und ließ mich auf mein Bett fallen.
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Die nächsten Zwei Wochen waren die schlimmsten Wochen meines Lebens. Ich konnte mit dem Druck der Menschen auf mich nicht klar kommen, es fehlte mir, mit Manu zu reden. Auch seine Jacke verlor langsam aber sicher seinen beruhigenden Duft, vergeblich und voller Hoffnung wartete ich jeden Abend auf ihn, vor ein paar Tagen bin ich sogar eingeschlafen auf der kalten Sitzbank, aber er kam nicht.
Warum wunderte mich das?
War es etwas neues, dass die Menschen mich verließen?
Wahrscheinlich hat er einfach gemerkt, was für ein ekelhafter Mensch ich wirklich bin.

So wie es immer ist.
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Ich stand vor dem Spiegel in unserem Badezimmer und betrachtete mich. Der heutige Schultag hatte mit den Rest gegeben. Der Anführer der Truppe, dessen Namen ich mittlerweile herausgefunden habe - er heißt Justin -, hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, ich hätte freiwillig mit ihm und dessen ekelhaften Freunden geschlafen.

Freiwillig. Freiwillig!

Und nun war ich die "Schlampe" der Schule. Und das, obwohl ich mindestens zehn Mädchen dieser Schule aufzählen konnte, die besser auf das Wort "Schlampe" passten, als ich. Die Blicke wurden gehässiger, abwertender, die Worte verletzender und mein Selbstwertgefühl niedriger. Aber vielleicht hatten sie auch Recht. Vielleicht war ich einfach ein ekelhafter Mensch.

Fuck sleep. [Sierra Kidd Fanfiction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt