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Die nächsten Stunden fragte er mich aus. Warum ich auf einmal so dünn geworden bin. Warum ich noch blässer war als sonst. Warum ich so wenig schlief.
Doch ich antwortete ihm nie. Ich schweifte immer ab. Ich wollte irgendwie nicht, dass er es weiß. Ich wollte nicht, dass er weiß, wie schlecht es mir wirklich ging. Vielleicht würde ihn dann doch die Einsicht packen und er würde mich liegen lassen. Das konnte ich nicht befürworten, er war die einzige Person, die ich noch hatte. Nun würde sowieso alles wieder gut werden. Und er beließ es auch dabei.
Ich erzählte ihm nur, dass es in der Schule immer schlimmer wurde und Zuhause auch.

Ich sah verwirrt in seine Augen, als er lächelte.
War mein Leiden so amüsant?
War ich so lächerlich?
Wie würde er reagieren, wenn er wüsste, was mit mir los ist?
Würde er dann anfangen, laut zu lachen? Würde er auch anfangen, mich zu verspotten?

,,Alice?"
,,M-Manu?", antwortete ich nervös. Ich hatte Angst vor dem was kommt. Was, wenn er mir genau das sagt, was ich gerade gedacht habe?

,,Ich hab' dich vermisst."
Mein Herz setzte aus, ungläubig sah ich ihn an. Alle negativen Gedanken, die vor einer Sekunde noch in meinem Hirn hämmerten, waren wie verflogen.
Niemand hatte das jemals zu mir gesagt. Ein >Ich habe dich nicht vermisst< oder so, ja, öfters, aber ein >Ich habe dich vermisst< hatte mir nie jemand gewidmet.

,,I-ich dich auch.", stammelte ich lächelnd vor mich hin und wurde rot. Ich hasste mich dafür, dass ich so schüchtern war, warum konnte ich sowas nicht sagen, ohne mich zu verhalten wie ein 13-Jähriges Mädchen?

Er lächelte wieder. Ich frage mich manchmal, ob Menschen die so viel Lächeln wie er, keine Schmerzen in den Wangen hatten. Wenn man die letzten Monate meines Lebens zusammenzählt, hatte ich in diesen nicht soviel gelächelt, wie er an einem Abend. 

,,Manu?", fragte ich vorsichtig, unsicher darüber, ob ich das was ich vorhatte durchziehen sollte oder nicht.
,,Alice?"
,,Ich mag dich."

Er sah mich an und fing an zu grinsen. Ich bereute meine Aussage sofort. Die Stimme in meinem Kopf machte mich fertig. Ich hätte ihm das nicht so früh sagen sollen, es war zu früh, viel zu früh. Bestimmt lachte er innerlich über meine Leichtsinnigkeit. Bestimmt würde er jetzt aufstehen und weglaufen. Und mich auslachen. Und mir sagen, dass ich nichts Wert bin und es niemals sein werde. Und er wird sagen, dass er mir bewusst aus dem Weg gegangen ist, damit sowas nicht passiert.

Doch stattdessen rutschte er näher zu mir und legte seinen Arm um meine Schultern.
,,Ich dich auch.", sagte er sanft und ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. Ich hatte das Gefühl, mein Herz sprintet mir aus der Brust, und ich würde gleich anfangen, wie ein Kleinkind zu weinen, weil ich mich so freute.
Weil ich mich so sehr freute, dass seine Worte so ehrlich klangen, ich könnte keines seiner Worte anzweifeln, sie klangen so unfassbar ehrlich.

,,Alice?", seine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen an meinem Ohr, was mir eine Gänsehaut auf dem ganzen Körper bereitete.
,,Manu?"
,,Was ist passiert?", fragte er sanft und stärkte seinen Griff um meine Schulter.

Sollte ich es ihm wirklich sagen?
Aber dann wäre er doch sauer, dass ich ihn angelogen habe und ihm nicht vertraue. Dann hat er bestimmt keine Lust mehr auf mich. Wer will schon was mit jemandem zu tun haben, der dich anlügt?

,,Nichts, Manu, ich hab dir doch schon alles gesagt."
Ich hörte, wie er seufzte. Ich hasste mich in diesem Moment so sehr. Ich hatte all die letzten Wochen gehofft, dass Manu wieder zurück kommen würde, damit ich wieder mit ihm reden konnte, und jetzt log ich ihn an und redete nicht, obwohl es doch das war, was ich so sehr wollte. Immer musste ich mir alles versauen.
,,Ich weiß, dass das nicht stimmt, Alice. Du weißt, ich lasse nicht locker, bis du mir die Wahrheit sagst.", sagte er, seine Stimme verlor nicht eine Sekunde die Sanftheit die sie besitzt. Ich atmete tief ein.

Eine Stimme in mir schrie, dass es das Ende wäre, wenn er es erfährt.
Die andere schreit, dass ich es ihm sagen soll, dass es besser wäre, dass er mir helfen kann. Dass ich ihm nichts verheimlichen sollte.
Und dann war da ich, die keine Ahnung hatte, wer überhaupt noch im Besitz meiner Gedanken war und was ich überhaupt wollte.  

Manu nahm seinen Arm von meiner Schulter. ,,Alice, du weißt, du kannst mit mir reden. Ich weiß, wie schwer es ist, aber ich verurteile dich nicht.", flüsterte er und platzierte seine rechte Hand auf meiner linken Wange, ich hob mein Gesicht von seiner Schulter.

Und nach ein paar Sekunden spürte ich seine weichen Lippen, die so sanft waren wie seine Stimme, auf meiner rechten Wange.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl.
Die letzte Person, die mir so nahe stand, war meine "Beste Freundin" von vor drei Jahren.

Sie ist nun eine von denen, die mich beleidigen und zusehen, wie ich geschlagen werde.

Aber, es war nichts negatives, dass Manu mich auf die Wange geküsst hatte. Im Gegenteil. Es ließ die Stimme in mir, die sagte, dass es besser wäre, wenn ich mit ihm rede, lauter werden und die negativen fast beinahe verschwinden. Es schien, als würde alles negative aus meinem Leben verschwinden, nur mit dieser kleinen Geste von ihm.

Ich konnte mich nicht vor der Röte wehren, die in meine Wangen schoss. Gott, kann ich nicht einmal normal reagieren?

Ich lächelte Manu trotzdem an, nachdem er sich von mir löste, nahm seine Hand, und sah ihm in seine blauen Augen.
Wie blau konnten Augen sein?
Wie schön konnten Augen sein?
Wie beruhigend konnten Augen sein?
Wie engelsgleich konnten Augen sein?

,,Sagst du es mir?", fragte er bittend. Ich sah auf meine Knie und atmete tief ein und aus. ,,Ich mache mir nur Sorgen um dich. Ich möchte nicht auch einer von denen sein, die aufgehört haben nachzufragen.", erklärte er mir. ,,Vor allem, wenn ich genau sehe, dass es dir nicht gut geht.", fügte er hinzu.
Ich war ihm so dankbar. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich ihn nicht mehr anlüge. Wenn ich jemanden haben wollte, der mir wirklich vertraut, sollte ich sein Vertrauen nicht aufs Spiel setzen.

,,Ich..ich weiß nicht wie ich anfangen soll.", gab ich beschämt zu.
Gab es überhaupt etwas, wofür ich mich schämen musste?

Fuck sleep. [Sierra Kidd Fanfiction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt