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"Du weinst.", sagte Thaddeus zu Ardian möglichst emotionslos, dabei besaß er so viele Emotionen in sich, die er rauslassen wollte.

"Nein", sagte Ardian sich schämend, "Ich hab nur was im Auge, das ist alles." Er wusste genau, dass das nicht stimmte. Und Thaddeus wusste es auch.

Aus beiden Mündern kamen frustrierende Laute. Sie beide hatten keine Lust mehr am Leben. Thaddeus wollte seines beenden, konnte jedoch nicht mehr. Er konnte sein Leben nicht einfach beenden, da er Ardian ein Versprechen gab. Ihn nicht zu verlassen. Und das würde er auch nicht übers Herz bringen, einfach so zu gehen.

Ardian konnte seines aus mehreren Gründen nicht einfach beenden. Er hatte a) jemanden gefunden, der so fühlte, wie er, b) wollte er die Kleinigkeiten im Leben nicht missen und c) konnte er Thaddeus nicht einfach so alleine lassen, da er ihm ja das Versprechen gab, ihn nicht alleine zu lassen.

Beide wurden also weiter zum Leben gezwungen. Vielleicht war das auch gut so. Es gibt immer einen guten Grund, weiter zu leben.

Der Tod ist doch nie eine Lösung, oder nicht?

"Ich hab dir nichts mitgebracht, was du essen kannst. Tut mir leid.", sagte Thaddeus beschämt. Er war von sich selber enttäuscht.

"Ist nicht schlimm, Taddl.", sagte Ardian aufmunternd zu dem noch leicht schluchzenden Jungen, der ihm immer mehr wie ein Bruder vorkam, als wie ein Freund. Er fühlte sich für ihn verantwortlich.

Thaddeus lächelte Ardian etwas an. Dabei wusste Ardian nicht, welchen körperlichen Schmerz Thaddeus durchfuhr. Er wurde ja auch nicht geschlagen, er ritzte sich ja auch nicht. Thaddeus widerfuhr also nicht nur Gutes, nein, es gab auch genügend
Schattenseiten in seinem bemitleidenswerten Leben.

"Ritzt du dich deswegen? Weil dein Vater gewalttätig ist und du dein Leben hasst?" Ardian nahm kein Blatt vor seinen Mund. Er sagte schlicht und einfach was er dachte.

Thaddeus sah in die Augen seines Freundes. Seines einzigen Freundes. Es war ihm egal, wie alt Ardian war. Es war ihm egal, woher er kam, was seine Geschichte war und wie er aussah. Er verurteilte den Menschen neben ihm in keinster Weise, da er etwas besaß, das die wenigen besaßen. Ein gutes Herz. Ihm war es also egal, was für schreckliche Dinge er bereits gesehen, getan oder erlebt hatte. Er würde ihn für nichts verurteilen. Denn er kannte es nur zu gut, verurteilt zu werden. Er wurde es immerhin die ganzen letzten Jahre von seinen Eltern, die ihn in eine Schublade steckten, in der er nicht sein und reinpassen wollte.

Er wollte nicht der anständige Junge sein, den man überall vorzeigen konnte. Das war er nicht.
Er wollte nicht gute Note schreiben müssen, da er sonst Schläge bekam. Das konnte er nicht.
Er wollte nicht mehr alle seine Geheimnisse und Sorgen für sich behalten. Denn das schaffte er nicht mehr.

Er wollte Tattoos, viele Tattoos.
Er wollte einen anderen Haarschnitt.
Er wollte andere Kleidung.
Er wollte singen.
Er wollte rappen.
Er wollte der Welt zeigen, wer er wirklich war.
Er wollte sich verlieren, nur um sich danach finden zu können.

Schließlich sagte er: "Ich ritz' mich, in der Hoffnung, dass ich irgendwann den Mumm hab, die Pulsader zu erwischen." Und ließ einen hörbaren Atemzug seiner Lunge entweichen, da er ihn nicht mehr halten konnte.

"Du musst damit aufhören, Kumpel.", sagte nun Ardian ernst. Er wollte wirklich, dass Thaddeus aufhörte. Er wollte nicht, dass er dieses jämmerliche Versprechen brach.

"Ich kann damit nicht aufhören!" Thaddeus drückte seinen Rücken durch, um sich etwas gerader hinzusetzen. Er verankerte seine Finger ineinander. "Es ist wie eine Sucht. Ich kann nicht aufhören. Es befreit mich."

"Von was befreit es dich? Von dem Blut, das in deinem Körper fließt? Davon?" Was Thaddeus nicht wusste: Ardian hatte bereits einen Menschen dadurch verloren. Durch Selbstmord. Er wollte das nicht nochmal.

"Hör auf es ins Lächerliche zu ziehen. Ich mein's ernst.", mahnte Thaddeus grimmig und sah zurück zum Wasser. Er fragte sich, wie kalt es wohl war, und ob er darin erfrieren würde, wenn er nur lange genug drinnen bleiben würde.

"Es ist lächerlich, DiCaprio. Du verunstaltest deinen ganzen Körper mit diesen hässlichen Narben. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede."

"Was weißt du schon?", ächzte Thaddeus. Was wusste Ardian schon? Er hat doch von nichts eine Ahnung, dachte Thaddeus.

Und ob Ardian eine Ahnung von dem besaß, was er sagte. Er besaß von vielen Dinge eine gewisse Ahnung. Er zeigte er nur den wenigsten. Er zeigte es auch nie seiner nun Ex-Freundin, Luna. Er öffnete sich ihr nie. Sie war zwar der Anker, den er brauchte, aber jetzt, als sie weg war, da merkte er erst richtig, dass er auch ohne sie konnte. Sehr gut sogar. Er zweifelte, dass er sie je wirklich liebte. Er dachte darüber nach, ob er vielleicht nur verliebt in den Gedanken war, sie zu lieben. Dieses schöne Mädchen mit dem braunen Haar und den grünen Augen zu lieben, die ihn besonders fühlen ließ. Doch falsch besonders. Sie lernte nie sein wahres Ich kennen.

Das war der Punkt, wenn man neue Leute traf und sie einen zu mögen schienen. Sie mochten bloß die Fassade, die Maske, die man stets trug.

Dieses Problem kannte Thaddeus, sogleich auch Ardian nur zu gut.

"Ich weiß mehr, als du glaubst, DiCaprio.", sagte Ardian außer sich. Es machte ihn wütend. Diese Sturheit, die Thaddeus besaß. Es brachte ihn außer sich. "Du hast deine Geschichte, ich hab meine."

Dann stand Ardian angesäuert auf und wollte gehen. Er wollte sich nicht weiter mit diesem Sturkopf unterhalten. Er hatte genug von ihm. Er mochte ihn, ja, aber manchmal drehten einfach alle Räder in Ardian durch und er floh vor Dingen, vor denen er nicht flüchten sollte.

"Wo willst du hin- nein! Warte! Geh nicht, bitte- ich hab's nicht so-", stammelte Thaddeus leise, aber Ardian hörte es wieder. Er hörte immer alles. Und er unterbrach Thaddeus.

"Es ist verdammt scheiße und hässlich, wenn der ganze Körper vernarbt ist, weißt du?", rief er zu Thaddeus, der noch immer am Flussufer saß.

"Was meinst-"

"Ja, verdammt, ich hab mich umbringen wollen und bin gescheitert, okay?! Ich hab meinen ganzen Körper mit diesen scheiß Narben verstümmelt!"

Und es war wahr. Denn die Person, die Ardian durch Suizid verlor, die wäre beinahe er selber gewesen. Er verlor sich selbst durch den Suizid, der in ihm stattfand. Er wollte nicht nur sich, sondern auch seine positive Seele ein für alle Mal umbringen. Sein körperliches Vorhaben scheiterte. Sein seelisches jedoch war ein voller Erfolg.

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