2

606 55 1
                                    

Ardian's Füße rutschten über den nassen Boden eines herbstlichen Tages. Regen strömte vom Himmel und sein Haar triefte vor Nässe, ebenso seine Kleidung. Die Löcher in seinen Schuhen ließen die Kälte hinein ziehen, einen Schauer durch seinen geschwächten Körper fahren. Stillschweigend ließ er sich am Fluss nieder. Das Rauschen beruhigte ihn. Die Enten, die im Wasser umher paddelten, bekamen seine volle Aufmerksamkeit.

Verdammt, dachte er, ich kann nicht mehr.

Und damit behielt er recht, denn er konnte nicht mehr. Er war einsam, erledigt und hatte diese Probleme mit seiner Freundin, die weniger mit ihm redete, sich immer weiter von ihm entfernte und ihn mehr ignorierte. Vielleicht war es ihre Art mit ihm Schluss zu machen, ihm einfach aus dem Weg zu gehen. Er wusste es nicht. Er hatte nie eine wirkliche Ahnung von Liebe gehabt.

Sein Spiegelbild wollte er nicht sehen. Er würde den Anblick seiner gefallenen Gestalt nicht ertragen, würde nicht sehen wollen, wie fertig er doch war. Er wollte nicht in seine müden, leeren Augen sehen. Nicht seinen ungepflegten Bart mustern oder sich wieder über die tiefen Schatten beschweren, die unter seinen Augen lagen. Er hatte all dies so satt.

Thaddeus flüchtete von Zuhause, ließ sich seine Zeit, um durch den Regen zu laufen. Ihn machte das Wasser nichts aus. Er besaß Kleidung, die er nach Laune wechseln konnte und eine Grippe, die er sich, wie Ardian, einfangen würde, machte ihm nichts aus. Da wären doch genügend Medikamente, mit denen er sich helfen könnte.

Voller Wut auf sich selber stampfte er durch jede Pfütze, die sich ihm in den Weg stellte. Wut darauf, dass er so ein fürchterlich trauriges und bedrückendes Leben leben musste. Darauf, dass er sich eingesperrt fühlte. Unverstanden und hilflos. Allein. Er hasste all diese Gefühle, die für ihn schon seit einiger Zeit zum Alltag gehörten. Seine Beine trugen ihn schlapp durch einige Straßen der verlorenen, winzigen Stadt, in der jeder jeden kannte. Ostfriesland war für ihn nicht groß, der Ort, in dem er lebte, zumindest nicht.

Die Musik in seinen Ohren auf Shuffle und der Welt entkommen, aus der es kein Entkommen gab. In seiner Hand befand sich wieder einmal eine Klinge, die er nie gerne anwandt, jedoch nicht anders konnte. Er fühlte sich so zugeladen. Durch das Schneiden konnte er sich ein bisschen Erleichterung verschaffen. Ein bisschen Last von seinen Schultern werfen und den Schmerz inhalieren, der ihn am Leben hielt. Das Blut sehen, das ihm zeigte, dass er noch lebte. Denn seine Seele sagte ihm, er seie bereits gestorben.

Und da sah Thaddeus einen Mann an diesem versteckten Fluss sitzen, an dem er nach einem Fußmarsch vorbei kam. Dort sah Thaddeus Ardian. Und er fragte sich, wieso jemand freiwillig alleine im Regen an einem Fluss sitzen und Enten beobachten sollte. Für ihn ergab es keinen Sinn. Für Ardian ergab es jedoch sehr wohl Sinn. Er besaß nunmal nichts anderes, als ein bisschen Hoffnung an den Tag. Er erfreute sich an den kleinen Dingen des Lebens, die ihn lebendig fühlen ließen. Dass da noch etwas ist, das schön und es wert ist, am Leben zu bleiben. Denn auch er dachte über Suizid nach. Auch er spielte mit dem Gedanken, einfach der Welt zu entkommen. Aber er besaß, im Gegensatz zu Thaddeus, keinen Mut, sich zu verletzen. Sich Schäden zuzufügen. Sich der Welt zu nehmen.

Thaddeus folgte den schmalen Weg, hinunter zum Fluss. Er blieb einige Meter hinter dem Rücken von Ardian stehen, nahm einen Kopfhörer aus seinem Ohr und ließ ihn hinab baumeln. Seine Finger suchten in seiner Jackentasche nach dem Stop-Knopf seines Handydisplays, die Klinge, die er noch vorhatte auf seinem Weg anzuwenden, wie die Male davor, verschwand in dem weichen Stoff seiner Innentasche.

"Hey", traute er sich dann zu sagen. Thaddeus hatte nie Mangel an Selbstbewusstsein gehabt.

Ardian's Kopf drehte sich nach hinten, nachdem er vor Schreck in sich zusammen zuckte. Er sah Thaddeus nur flüchtig an, bevor er sein Gesicht wieder den Enten zuwandt. Das Blut seines gesamten Körpers rauschte mit einem Mal in seinen Kopf, erhitzte seine Wangen und er glühte. Dabei war er sich sicher, dass sein Körper so ausgekühlt sein musste, sodass er keinerlei Wärme mehr spüren würde.

"Hey, Mann.", sagte Thaddeus wieder, "Geht's dir gut?"

Er besaß keinerlei Anstand den Fremden zu siezen. Für ihn sah er wie ein gleichaltriger Junge aus, dabei war Ardian einige Jahre älter. Aber das konnte Thaddeus ja nicht wissen.

"Verschwinde", murmelte Ardian bloß zurück. Seine Stimme war nur noch ein Klang von Rauch und Eigenständigkeit. Er hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr gesprochen. Das Knurren seines Magens war sein permanenter Gesprächspartner, und mit dem wollte er nicht kommunizieren.

"Was?", fragte Thaddeus nochmals nach, "Geht's Ihnen gut?" Und beschloss, ihn dann doch zu siezen. Ardian tat ihm irgendwie leid.

Er hockte sich neben den unrasierten, abgemagerten Mann  und starrte gegen das strikte Seitenprofil, das stets auf die Enten gerichtet war. Ardian blinzelte nur hin und wieder, jedoch mehr, als er darüber nachdachte, ob Thaddeus einer von den Hooligans sein könnte, die ihn gerne mal ausraubten oder Stress verursachten, und bekam Tränen hochgeschossen.

"Ich hab gesagt, dass du verschwinden sollst.", betonte Ardian daraufhin deutlicher. Er knackste mit seinen Knöcheln. Immer, wenn er nervös wurde, machte er dies. Mit den Knöcheln knacksen.

"Okay, okay, tut mir ja leid, Alter.", gab Thaddeus bloß noch zurück, bevor er sich wieder erhob und den engen Weg zurück nach oben ging, wo sich eine vernünftige Straße ankreuzte.

Ardian dachte darüber nach, ob Thaddeus ihm vielleicht auch einfach hätte Geld geben oder helfen wollen. Immerhin, es wäre eine Möglichkeit gewesen. Doch dem war nicht so. Thaddeus war jediglich etwas irritiert von Ardians Gestalt und machte sich zurück nach Hause, wo seine strengen Eltern wieder auf ihn warten sollten.

Ardian hingegen blieb am Fluss sitzen, bis es aufhörte aus vollen Eimern zu regnen und die Enten davon schwommen. Er hatte nichts zu verlieren, nichts, das auf ihn wartete und auch nichts, das ihn stresste. Also machte auch er sich auf seinen Nachhauseweg, bloß führte seiner in Ungewissheit, was morgen kommen würde, und Thaddeus' auf Gewissheit, dass der morgige Tag ihn wieder bis ans quillende Blut treiben würde.

RiversideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt