Einige Tage nach Sara's Tod lag Ardian schweigend auf seinem Krankenhausbett. Er fand den medizinischen Geruch noch immer fürchterlich, so tat es auch Thaddeus, welcher an diesem Tag zu Besuch war.
Ardian's Stimmung war mies. Er wollte nicht reden. Nicht essen. Nicht atmen. Nur schweigen. Sterben. Ruhe und Frieden.
Er wusste jedoch selbst, dass das nicht ging. Dass das Leben nunmal keine Ausnahmen macht. Dass es nicht einfach ist. Dass er nicht mehr lange hat, doch das wusste Thaddeus nicht.
"Wie geht's uns denn heute?", wollte Thaddeus die trübe Stimmung heben. Er hatte bereits von Sara's Tod erfahren. Er hatte jedoch nicht von Ardian's Schweigsamkeiten und Mangelernährung erfahren, nicht von dem Hurrikan in seinem Kopf und der Ausbreitung seiner Krankheit.
"Hör auf so zu reden, als würde die Welt in Ordnung sein, du Penner, nichts ist in Ordnung, verstanden?", fauchte Ardian direkt zurück. Er verstand keinerlei Spaß mehr. Er wollte nicht mehr lachen, da es sich wie Verrat anfühlte, zu lachen, wenn wenige Tage zuvor eine geliebte Person verstorben war.
Sein ganzes Leben fühlte sich für ihn plötzlich wie ein Verrat an. Verräterisch, zu atmen. Verräterrisch, zu weinen. Verräterrisch, zu leben.
"Okay", antwortete Thaddeus kleinlaut und geschlagen, "okay, soll ich dir was holen? Aus dem Kiosk unten? Da arbeitet doch diese eine Frau, von der du mir mal erzählst hast, erinnerst du dich? Die, die dir, wenn du bei ihr Süßigkeiten kaufst, immer eine Extra-Tüte mitgeben hat."
"Die Extra-Tüte war immer für Sara, weil sie am Ende zu schwach war, um selbst nach unten zum Kiosk zu gehen." Ardian hatte keinerlei Freude daran, mit Thaddeus zu reden. Er wollte einfach alleine sein. Er wollte leiden. Er wollte sich an sie erinnern, an Sara. Er wollte doch nur eine einfache Kerze anzünden, oder sowas, um ihr zu zeigen, dass er an sie dachte. Dass er sie nicht längst vergaß.
"Tut mir leid", entschuldigte sich Thaddeus und sah zu Boden. Er wollte nicht länger in Ardian's traurige Augen sehen und an die Zeit denken, in der er wegen Luna depressiv war. Er wollte einfach, dass alles wieder gut wird, aber er wusste, dass das nicht ginge.
Man konnte immerhin keinen Krebskranken davon abbringen einer verstorbenen Krebskranken hinterher zu trauern.
"Ja, mir tut's auch leid.", war alles, was Ardian noch zu sagen hatte, bevor er seinen Kopf von Thaddeus wegdrehte und tiefe Atemzüge durch seine Lungen ziehen ließ.
"Sie hätte es verdient, länger-"
"Ja, hätte sie.", unterbrach Ardian Thaddeus, bevor er auch nur zu Ende sprechen konnte.
Die Wahrheit war: Ardian wollte nicht, dass Thaddeus die Dinge aufzählte, die Sara verdient hätte. Die sie hätte erleben können oder erleben sollen. Ardian wollte einfach nicht, dass jemand all die Dinge erwähnte, die sie hätte tun, erreichen oder verdienen sollen. Er wollte nicht einmal, dass jemand ihren Namen in den Mund nahm.
"Es ist nicht wichtig, wie lange wir schon hier sind, wichtig ist, wann wir wieder raus kommen.", flüsterte Ardian leise vor sich hin und sah zur Decke hinauf. Wenn sie und der Rest des Gebäudes nicht wär', konnte er stets in den Himmel hinauf schauen.
"Was?" Thaddeus lugte wieder hinauf. Seine Wimpern umrahmten seine blauen Augen treu und mutig. Mutig, da er seinen besten Freund in seinem wohl schlimmsten Zustand ertrug. Und es ließ ihn leiden.
"Das hat Sara immer gesagt. Es ist nicht wichtig, wie lange wir krank sind oder uns in Krankenhäusern aufhalten. Wichtig ist, wann wir wieder heraus kommen." Ein Lächeln schlich sich auf seine spröden Lippen, die rissig waren und an manchen Stellen sogar bereits bluteten. Er begann daraufhin zu husten, da er kurz keine Luft mehr bekam.
Die Krankheit machte ihn fertig, obwohl er die Krankheit fertig machen wollte.
"Das ist irgendwie schön", antwortete Thaddeus ebenso leise, wie Ardian es gesagt hatte, "Sie war besonders."
"Ja", lächelte Ardian zurück, "das war sie wohl." Und sah zu der Schokolade auf seinem weißen Nachttisch, auf dem eine Karte von ihren Eltern lag, die sie selbst geschrieben hatten. Die Schokolade, die er auch von ihren Eltern bekam. Ihre Eltern waren wirklich großzügig.
"Sie haben dir eine Karte gegeben?", fragte Thaddeus irritiert, als er sie zu sich nahm und in seinem Händen umher wandte.
"Sie mochten mich, weißt du."
"Lieber Ardian Bora-", begann Thaddeus zu lesen.
"Nein, nein, lies sie nicht vor, bitte!", hastete Ardian schreckhaft herunter und setzte sich etwas zu schnell auf, sodass sein Kopf zu explodieren schien und er für einen Moment inne hielt, in dem Thaddeus ihn nur besorgt ansah, bis er dann weiter las.
"Wir danken Ihnen vielmals, dass sie unserer Tochter so viel Freude bereiten. Sie sind ein wahrlich guter Mensch-" Thaddeus lachte etwas auf. "Wie förmlich..."
"Ihre Eltern sind Lehrer an irgendeiner noblen Schule, was weiß ich.", warf Ardian zu seiner Verteidigung ein und lachte etwas. Es fühlte sich verräterisch an.
"Unsere Tochter mag sie sehr gerne, auch wenn sie es nicht zugeben mag. Sie bescheren ihr viel Glück in ihrer wohl schwersten Zeit. Seit sie Sie kennt, blüht sie wieder vollkommen auf."
"Okay, okay, hör auf, bitte", flehte Ardian ihn quasi an, "ich will's nicht weiter hören."
"Wieso nicht? Besonders die Stelle »Zudem haben Sie wirklich schöne Augen, Herr Bora.« gefällt mir gut!"
"Taddl, hör auf, verflucht nochmal."
"Ich dachte, vielleicht erinnert dich diese Karte an schönere Zeiten..."
"Diese Karte erinnert mich nur an Zeiten, die ich nicht zurück bekomme. Und ich will nicht mehr hören oder lesen, dass ich ihr was bedeutet hab. Ich will's nicht mehr hören. Sie kommt nicht wieder, also tu diese verdammte Karte weg."
"Na gut", gab sich Thaddeus geschlagen und legte das Stück Pappe zurück zu seinem Ursprungsplatz.
Nein, sie würde nicht wiederkommen.
Sie würde nie wieder dort sein, in dem leeren Bett neben ihm.
Sie würde einfach weiterhin eine Seele im Universum sein.
Und es tat Ardian weh, dass so wenige von ihrer Existenz wussten.

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Riverside
Fanfic»Und alles, was sie taten, war anscheinend nichts weiter, als unten am Fluss zu sitzen und über die Probleme und Theorien dieser verkorksten Welt zu reden.« Sie waren unzufrieden mit der aktuellen Situation. Sie beide hatten den Glauben an die Mensc...