Kapitel 3

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Die Tür fiel schwer zu und das angeheiterte Lachen, die unterschwellige Musik und die verschiedenen Gesprächsfetzen wurden abgeschnitten. Ich hörte nur noch hier und da die leisen Reifen eines Autos auf Asphalt und das beruhigende Geräusch der Windstöße, die mich kalt erfassten.

"Der letzte schöne Tag diesen Jahres ist vorbei, jetzt kommt sogar in Hamburg der Winter an.", hatte der Nachrichtensprecher im kleinen Bildschirm der Kneipe eben noch gesagt.
Er hatte Recht; ich vergrub unwillkürlich mein Kinn im zugezogenen Saum meiner Jacke und vergrub die Hände in den Taschen. Doch die Kälte tat gut. Sie beruhigte mich und sorgte für einen klaren Kopf; zumindest klarer, als in der stickigen Bar im Arm vom gut angetrunkenen Kris, mit seinem Atem in der Luft und meinem rasenden Herzen.

Natürlich hätte ich von unserer Stammkneipe auch auf direktem Wege nach Hause gehen und schlafen können, so wie ich es den Jungs gesagt und mich frühzeitig verabschiedet hatte. Doch meine mittlerweile etwas vor Kälte schmerzenden Beine trugen mich woanders hin. Durch verwinkelte, abgelegene Seitenstraßen hin zu einem winzig kleinen Park, in dem, obwohl er in der Großstadt lag, fast nie eine Menschenseele weilte.
Ich setzte mich auf das knarzende, etwas morsche Holz einer Bank und musterte die Lichtung, die sich vor mir erstreckte. Ich schloss meine Augen und schaltete ab. Sein Gesicht tauchte sofort vor meinem inneren Auge auf und grinste mich schief an. Mir wurde warm und ich zitterte zeitgleich.
"Was machst du bloß mit mir?"

Der Winter zog an mir vorbei, wie ein beißend heller Lichtstreif.
Mein Leben war ein einziges, langweiliges Musikvideo mit mir selbst als Hauptrolle; das Wetter vor meinem Fenster wurde von Tag zu Tag grauer, der Winter in Hamburg machte seinem Ruf alle Ehre. Eine Woche verging, die nächste, die übernächste.
Meine Umgebung veränderte sich in Rekordgeschwindigkeit, alle lebten ihr Leben und wagten Veränderungen, nur ich stand leblos in der Mitte und bewegte mich kein Stück. Kalenderblätter fielen von der Wand und ich lebte matt vor mich hin. Verschanzt in mir selbst, nicht fähig, sich auszudrücken.

Wir probten viel, in der Pause hatten wir allesamt bereits Ideen für Songs entwickelt, die wirklich gut werden könnten, also machten wir uns quasi direkt an die Ausarbeitung und Umsetzung, fanden gemeinsam passende Melodien zu den Texten oder andersrum, ergänzten uns gegenseitig, vervollständigten den anderen.
Außerhalb der Zeit im Proberaum klinkte ich mich ziemlich aus, erfand irgendwelche Ausreden und blieb zuhause. Nicht, weil ich keine Lust hatte, etwas mit den Jungs zu unternehmen, sondern, weil ich mir einfach klar werden musste, was das alles war, in mir drin und sobald ich in seiner Nähe war, konnte ich das nicht mehr; nachdenken.
Mir war klar, dass das lang nicht mehr so weiter gehen könnte, dass sie zurecht misstrauisch werden würden, falls sie das nicht schon längst heimlich waren, schließlich kannten sie mich, und dass ich es nicht ewig aushalten würde. Mir meine Gefühle zu verweigern, sich vor ihm zu verstecken. Doch seine Nähe war genauso schmerzhaft wie seine Abwesenheit, und doch so wunderschön.
Um die Feiertage kam ich trotzdem nicht ohne weiteres herum.

Den 21. Dezember, meinen Geburtstag.
Alle zählen die Sekunden herunter und werden immer lauter, das Lächeln auf den Lippen meiner engsten Freunde ebenso immer breiter. Sie sind bei Null angekommen, alle fallen hektisch über mich her, mit Glückwünschen und Umarmungen. Seine ist die schönste. Ich sauge den Geruch tief in mich ein und verschließe ihn fest. "Wünsch dir was!" Ich schließe die Augen und puste die 32 bunten Kerzen aus, wie mir befohlen.
Und da ist er, der einzige, unrealistische Wunsch, den ich habe.

Den 24. Dezember, Heiligabend.
Überall liegen mit Mühe hübsch verpackte Geschenke. Der Geruch von fruchtigem Punsch und warmem Gebäck passt perfekt zu der erleuchteten Tanne, unübersehbar in der Mitte des Raumes. Für ein paar Abendstunden wird einem die Perfektheit des Lebens vorgegaukelt. Alle sind glücklich, mit ihren Liebsten versammelt und überall von Wärme umgeben.
Die Kinder packen mit strahlenden Augen ihre Geschenke aus und können sich nichts besseres vorstellen, als all das neue Spielzeug, das sie von Mama und Papa bekommen haben. All ihre Wünsche gehen in Erfüllung und auch ich werde aufgefordert, die Schleifen meiner Päckchen zu öffnen und zu wissen, dass dort nicht das drin ist, was mich bewegt.
Da ist er, nur dieser eine Wunsch, den ich habe, den mir niemand erfüllen kann.

Den 31. Dezember, Silvester.
"Auf ein gutes neues Jahr!" Lachen liegt in der Luft. Glück mit Hoffnung, Zuversicht, Aufregung. Alles glitzert und ist bereit, im neuen Jahr so richtig durchzustarten. Es besser zu machen, als das letzte. Endlich all das zu schaffen, was man schon ewig vor hat. Zu sich selbst zu finden, eine Familie zu gründen, dem Chef zu sagen, dass er ein Arschloch ist und kündigen. Oder in meinem Fall - "Und Jakob, was sind deine Neujahrsvorsätze?"
Er flammt in mir auf. Der einzige, sehnsüchtige Wunsch, den ich habe. Der mir den Schlaf raubt. "Mal sehen" ist meine Antwort, gepaart mit einem Lächeln und einem tiefen Blick in mein Glas, was dringend wieder nachgefüllt werden muss.

•Du weißt nicht, was du fühlst.•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt