Kapitel 19

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Der Märzwind schlug mir kühl ins Gesicht, als ich am darauffolgenden Tag auf dem Weg zum Proberaum war - so kühl, dass er mich an Kris' Verhalten vom Vortag erinnerte, als er mich nicht einmal eines Blickes würdigte.
Ich hatte mir zwar eingeredet bekommen, dass es mit all dem Stress zutun hatte und sicher nicht seine Absicht war, doch die Zuversichtlichkeit vom gestrigen Abend nahm konsequent mit jedem weiteren Meter, den ich mich dem Proberaum näherte ab und machte Platz für Zweifel.

Ich kam als Letzter am Proberaum an und fand Niels, Jo, Kris und Sascha bereits am länglichen Holztisch sitzend vor einem einzigen Berg an Papieren vor.
Wir hatten abgemacht, alles mitzubringen, was wir bereits irgendwie aufgeschrieben und festgehalten hatten, um gemeinsam mit dem Aussortieren und der Ideenfindung anzufangen.
Ich lud meine Jacke neben dem einzigen noch leeren Stuhl ab, warf ein allgemeines "Guten Morgen" in die Runde und kramte auch meinen Stapel von zerknickten Blättern aus meiner Tasche hervor.
"Johannes, es tut mir ehrlich leid, aber", sagte Niels hinter hervorgehaltener Hand und kämpfte sichtlich damit, laut aufzulachen, "das ist ziemliche Kacke." - "Lass mal sehen.", forderte Kris, überflog die gekritzelten Zeilen und prustete daraufhin los. "Das klingt wie eine Mischung unseres ersten Albums und Michael Wendler!"
Johannes riss ihm das Papier aus der Hand und zerknüllte es. "Ich habe euch gewarnt, dass einiges davon Müll ist! Der Vergleich mit dem Wendler tut trotzdem weh.", lachte er und demonstrierte sein gebrochenes Herz.

Erleichtert darüber, dass die Stimmung um einiges besser zu sein schien, als am vorigen Tag, grinste ich auch ein wenig vor mich hin und griff mir ein Notenpapier, auf dem groß "Sommer in Schweden" stand und die Noten der ersten Strophe, so wie des Refrains eingezeichnet und der Text notiert war.
"Den haben wir echt gut hinbekommen", beschloss ich zufrieden, als ich es noch einige Male gelesen hatte, trotz des schlechten Gefühls in meiner Magengegend, das entstand, sobald ich an den letzten Abend in Schweden dachte.
Ich sah zu Kris, der ziemlich vertieft auf einen Zettel direkt vor ihm starrte, schließlich die letzte Zeile durchstrich und darunter weiter schrieb.
"Ist jetzt schon einer meiner Lieblinge.", lächelte Sascha stolz und unterbrach mich dabei, Kris zu beobachten, wie er das Ende des Stiftes an seinen Mund lehnte und mehrmals konzentriert dagegen tippen ließ.
Ich lächelte zurück und schnappte mir ein paar weitere von Johannes' Blättern, jedoch wollte mein Blick einfach nicht an dem Papier heften bleiben, sondern flog immer wieder zu Kris, der gegenüber von mir saß und der mich nicht zu beachten schien.

Mir sollte das nichts weiter ausmachen, ich sollte mich auch auf die Texte und Melodien konzentrieren, die ich in meinen Händen hielt. Konnte ich aber nicht. Kris allerdings schon und langsam fragte ich mich, ob er das, was zwischen uns vorgefallen war, überhaupt ernst nahm oder wieder als Experiment betiteln wollte, über das wir nie wieder ein Wort verlieren würden. Ob ihm der Kuss überhaupt irgendetwas bedeutet hatte. Ob ich es tat.

Ich wurde von Johannes abrupt aus meinen Gedanken gerissen, der fragte: "Was ist denn das?"
Kris, der neben ihm saß, sah auf das Blatt, das Jo in der Hand hielt, und meinte: "Warte, das gehört noch dazu", kramte ein weiteres Blatt hervor und griff sich zielsicher eins von meinen, was er Johannes gab. Sofort wurde mir klar, dass es sich um die Melodie handelte, die ich auf dem Schlagzeug entwickelt hatte. Kris war völlig begeistert gewesen und hatte mir auf der Gitarre eine kleine Melodie vorgespielt, die wirklich gut dazu passte.
Seine Augen hatten gefunkelt und sein Lächeln gestrahlt. Damals war noch alles völlig in Ordnung gewesen und er war so voller Vorfreude.

"Es ist eigentlich so einfach und doch so kompliziert, dass es mich nur noch verwirrt", begann Johannes leise zu singen und ließ mich langsam von meinem Schoß aufsehen, direkt in Kris' Augen. Ich erschrak fast ein wenig bei der Erkenntnis, dass er mir zum ersten Mal wieder direkt in die Augen sah und dass der Text von ihm zu unserer Melodie geschrieben war.
Seine Augen funkelten, doch nicht wie damals.
Ein unerklärliches, mysteriöses Funkeln in dem hellen Braun, das nur an mich gerichtet war.
Sein Blick haftete undurchdringlich und so intensiv an mir, dass es mir völlig unmöglich war, meinen abzuwenden.
"Wir schmeissen uns're Herzen ins Feuer und sehen zu, wie sie langsam verbrenn'. Unser Leben ist mir nicht mehr geheuer, ich kann uns nur noch aus der Ferne erkenn'."
Mir wurde heiß und kalt zugleich, als ich erkannte, um was es ging, aber nicht verstand. Ich verstand nicht, was Kris mir sagen wollte, weshalb er mich so ansah.
"Wir schmeißen uns're Herzen ins Feuer und sehen zu, wie sie langsam verbrenn'. Unser Leben ist mir nicht mehr geheuer, ich kann uns nur noch aus der Ferne erkenn'", Johannes wurde immer lauter und sicherer und seine Stimmfarbe verriet, dass es ihm gefiel.

Ich konnte meine Augen nicht von Kris' abwenden, es war mir einfach unmöglich. Ich war mir sicher, dass er mich noch nie so tief angesehen hatte, doch es war mir ein Rätsel, was Kris versuchte, mir zu sagen.
Er war mir ein Rätsel.
Er war mir noch nie so rätselhaft gewesen.

***

Am späten Nachmittag hatten wir unser Treffen dann aufgelöst, weil sich schließlich niemand mehr wirklich konzentrieren konnte und wir auch schon ziemlich viel geschafft hatten.
Ich konnte an nichts anderes mehr denken.
Auf meinem Nachhauseweg, beim Abendessen, beim Fernsehenschauen, in meinem Bett an die Decke starrend.
Nichts, als die Zeilen, die sich bereits nach dem ersten Mal Hören in meinen Kopf eingebrannt hatten und seinen durchbohrenden Blick.

Es ist eigentlich so einfach und doch so kompliziert, dass es mich nur noch verwirrt.

Ich setzte mich kerzengerade in meinem Bett auf, zog mir die Jogginghose vom Leib und tauschte sie gegen eine Jeans. Plötzlich hatte ich es so eilig, dass ich die Knöpfe im Gehen schloss und gleichzeitig schon in ein Paar meiner Sneaker schlüpfte.

Wir schmeißen unsere Herzen ins Feuer und sehen zu, wie sie langsam verbrennen.

Ich schnappte meinen Schlüssel vom Küchentisch und zog mir die Jacke über, während ich das Treppenhaus verließ und in die frische Abendluft eintauchte. Ich lief durch die Dunkelheit, zügig, fast schon hektisch, mit meinem Ziel klar vor Augen.

Unser Leben ist mir nicht mehr geheuer, ich kann uns nur noch aus der Ferne erkennen.

Ich konnte das nicht einfach so stehen lassen. Nicht, nachdem er mich so ignoriert hatte. Nein, ich wollte Antworten.
Ich drückte den kleinen Knopf der Klingel mit der Aufschrift "K. Hünecke" und wartete nervös, konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, ihn jeden Moment zu sehen.
Und dann öffnete er die Tür.
Lediglich in Boxershorts.

"Jakob? Was machst du denn hier?", flüsterte er und zog die Tür wieder einen Spalt weiter zu.
Erst jetzt dämmerte es mir, wie spät es schon war und dass ich ihn wahrscheinlich gerade aus dem Bett gezogen hatte.
"Ich ähm, ich wollte mit dir reden", sagte ich etwas kleinlauter, als gewollt.
"Können wir das nicht verschieben? Wir sehen uns doch morgen sowieso wieder.", erwiderte er, noch immer im gedämpften Ton.
"Mir ist das ziemlich wichtig. Weißt du, wegen dem Songtext heute. Bitte.", flehte ich fast schon nachdrücklich, als er unbeholfen seufzte und ich leise Geräusche aus seiner Wohnung wahrnahm.
"Was dauert denn so lange?", ertönte plötzlich eine weibliche Stimme, die ich nicht zuordnen konnte.
Eine junge Blondine, die lediglich mit Kris' Hemd bekleidet war, legte ihre Arme um ihn, drückte ihre Lippen auf seinen Hals und ließ meinen Herzschlag schmerzhaft aussetzen.

Wir schmeißen unsere Herzen ins Feuer und sehen zu, wie sie langsam verbrennen.

•Du weißt nicht, was du fühlst.•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt