Kapitel 21

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Den ganzen Tag hatte ich kauernd in meinem Bett verbracht.
Die Vorhänge waren zugezogen, sodass nur gedämmtes Licht in mein Schlafzimmer fiel, während ich entweder an meine Zimmerdecke starrte, etwas vor mich hin döste oder auf meinem Laptop ein paar Folgen meiner Lieblingsserie sah. Ich brauchte diesen Tag, um allein mit meinen Gedanken zu sein und sie letztendlich doch zu ignorieren.

Nachdem ich die draufkommende Nacht etwas besser geschlafen hatte und mich am Morgen wieder etwas lebendiger fühlte, entschloss ich mich dazu, heute wieder zur Probe zu gehen.
Ich würde Kris ohnehin nicht auf ewig aus dem Weg gehen können, also sollte ich mich möglichst früh der Situation stellen und wer weiß, vielleicht würde ich dadurch ja auch Antworten bekommen.
Antworten auf all die Fragen, die so viel Platz in mir beschlagnahmten und sich wie Stacheldraht um mein Herz schlangen.

Ich war der letzte am Proberaum.
Ich hatte die heiße, beruhigende Dusche, die ich zuhause noch genommen hatte, viel zu sehr genossen und bin eine Viertelstunde später losgegangen, als ursprünglich geplant, doch das war mir gleichgültig.
"Na, geht es dir wieder besser?", fragte Johannes mich zur Begrüßung, als er mich als Erstes bemerkt hatte.
Mein Blick landete unwillkürlich auf Kris, der in diesem Moment aus der angrenzenden 'Küche' kam und mich nicht einmal anschaute; als wäre ich gar nicht da.
Hörte das denn niemals auf?

"Passt schon", murmelte ich und streifte mir meine Jacke von den Armen, bevor ich sie auf einen der gleichfarbigen Sessel schmiss, in dem sie regelrecht unterging.
Ich schob mich zwischen Johannes und Niels, welcher mich kurz skeptisch musterte und mir freundschaftlich auf den Rücken klopfte, vorbei und setzte mich auf meinen Platz.

"Können wir?"
Niels sah erwartungsvoll in die Runde, mein Blick flatterte erneut zu dem dunkelblonden Gitarristen. Es war ein finsterer, zorniger Blick. Ich hatte es satt, dass er durch mich hindurch sah, als wäre ich transparent.
Doch natürlich sah er diesen Blick nicht.
Denn ich war ja transparent für ihn.

Ich nickte Niels zu, wie auch der Rest, und zählte das erste Lied ein.
Schon während der ersten Songs war es deutlich bemerkbar, dass ich gedanklich ganz woanders war.
Ich verspielte mich, war häufig neben dem Takt oder verpasste meine Einsätze. Es war die wohl schlechteste Leistung, die ich seit Jahren lieferte. Doch so sehr ich mich auch bemühte; ich konnte mich einfach nicht länger als dreißig Sekunden einzig und allein auf die Musik konzentrieren. Meine Gedanken landeten immer wieder bei Kris.
Bei unseren Küssen und dann bei der Blondine, die er vorgestern vor meinen Augen verführt hatte. Mir wurde jedes Mal bei der Erinnerung schlecht.

Er hingegen konnte tatsächlich immer noch seine Witze reißen und war wohl der Einzige, dem es egal war, wie grottig unsere Probe verlief, die wir trotzdem tapfer bis zum Schluss durchzogen.
"Wenn wir so weitermachen, können wir bald wieder vor drei Gästen in einem Freibad an einem Bandcontest teilnehmen und verlieren", war Kris' finale Bemerkung am Ende, als wir aufzuräumen begannen. Vielleicht bildete ich es mir ein, doch ich spürte dabei den vorwurfsvollen Blick im Nacken.

"Bist du dir sicher, dass du wirklich wieder fit bist?", fragte Johannes vorsichtig und bemühte sich dabei, nicht verletzend zu klingen. Natürlich wussten wir alle, dass es allein an mir lag, dass diese Probe so beschissen gelaufen ist, doch er wollte es natürlich nicht so direkt sagen.
"Ich leg' mich zuhause einfach nochmal ins Bett." Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und packte mit schlechtem Gewissen meinen restlichen Kram zur Seite.

"Ich bin weg", verabschiedete Kris sich plötzlich kurz angebunden und verschwand ohne weiteres aus unserem Proberaum.
Verdutzt sahen wir ihm hinterher, bis Niels genervt die letzte Gitarre an ihren Platz stellte: "Meine Fresse, was ist denn heute los, ey? Habt ihr wieder Zoff?"
Ich zuckte zusammen und starrte perplex in Jos und Niels' Richtung: "W-was? Nein. Keine Ahnung, was mit ihm los ist."
Und das war ja nicht mal gelogen.

Ein paar Minuten später lösten auch wir Übriggebliebenen uns auf.
Während Johannes von Anna abgeholt wurde, da die beiden noch wegwollten, und Niels zu Fuß die kurze Strecke bis zu seiner Wohnung zurücklegte, steuerte ich auf die U-Bahnstation zu und bog gerade um eine Häuserecke, als ich plötzlich die vertraute Stimme etwa 3 Schritte hinter mir hörte:
"Was war das eben?"
Ich schreckte um und dort stand er; nur ein kleines Stück von mir entfernt und mit so einem kalten Blick, dass gegen ihn die Atmosphäre der leicht flackernden Neonröhren der Station behaglich angenehm wirkten.
"Was war was?", fragte ich irritiert nach.
Es wunderte mich, dass er überhaupt mit mir sprach, geschweige denn, dass er auf mich gewartet hatte.
"Gestern behauptest du, du seist krank, und heute bist du überhaupt nicht bei der Sache. Was stimmt denn nicht mit dir?!"
Da lag nicht ein Funken Sorge in seiner Stimme. Sie war kalt, voll von Wut und Verachtung und der Stacheldraht zog sich mit jedem weiteren Wort enger zusammen.
Was stimmt denn nicht mit dir.

"Du fragst, was mit mir nicht stimmt?!"
Zorn keimte in mir auf, während Kris so dämlich vor mir stand und mich mal wieder behandelte, wie es ihm gerade passte.
Wie konnten ihn ein paar Küsse denn so verändern? Wie konnte all das so schnell passiert sein?
"Was stimmt nicht mit dir?! Du verhältst dich mir gegenüber wie der letzte Arsch! Erst ignorierst du mich, dann küsst du mich, tust so, als wäre das nie passiert, und dann machst du vor meinen Augen mit dieser Frau 'rum, was kommt als Nächstes? Was, Kris, sag' es mir!"
Seine Reaktion war nicht die, die ich mir erhofft hatte; sie bestand nicht aus einem betroffenen Blick, einer Erkenntnis, Reue, einer Entschuldigung.
Nein.
Er lachte.
Er lachte mich aus, lachte über meine Naivität.

"Gott, Jakob, werd erwachsen."
Kris schüttelte immer noch schmunzelnd mit dem Kopf, während mein Herz schmerzhaft aussetzte.
"Langsam haben wir doch ein Alter erreicht, in dem nicht jeder Kuss ein Versprechen für die ewige Liebe ist, oder?"
Nein, nicht jeder Kuss war zwangsläufig von Bedeutung, aber so einer, wie der vor zwei Tagen. Solche Küsse, in die man so viel Leidenschaft legte, waren nicht bedeutungslos, konnten es nicht sein.

"Du kannst mir nicht erzählen, dass es dir nichts bedeutet hat", hauchte ich kraft- und fassungslos, plötzlich unsagbar erschöpft.
Kris lachte noch einmal auf und schüttelte spöttisch mit dem Kopf: "Du steigerst dich da viel zu sehr 'rein, Jakob. Vergiss das doch einfach und konzentrier' dich wieder auf deinen Job."
Fast schon ermutigend klopfte er mir auf die Schulter, während er sich an mir vorbeidrückte und mich dort stehen ließ.
Sein eisiger Blick war zwar mit ihm verschwunden, die Kälte blieb jedoch zurück.
Um mich herum, in mir drin, mich auffressend.

•Du weißt nicht, was du fühlst.•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt