Kapitel 9

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Es war mit Abstand der schönste Kuss, den ich jemals bekommen hatte. Den ich mir schon so lang ersehnte und ihn mir ständig ausgemalt hatte, während Kris mal wieder irgendetwas vor sich hin redete, selber nicht genau wusste, wovon genau er da sprach, und nicht merkte, dass ich ihm weniger zuhörte und mehr den angenehmen Klang seiner Stimme auf mein Inneres wirken ließ und mir vorstellte, ihn zum Schweigen zu bringen, seine Lippen auf meine zu legen.

Exakt das war nun geschehen und aufgrund des Alkohols realisierte ich es erst jetzt nach und nach. Ich fuhr mir mit den Fingerspitzen über die Unterlippe und spürte das längst vergangene Kribbeln. Ein ähnliches wie dieses, was ich ausnahmslos jedes Mal in der Magengegend hatte, wenn ich Kris sah, er grinste, lachte, Kris war.
Obwohl der Kuss so viel Verwirrung und Verleugnung, Überforderung und Scham mit sich trug, bereute ich nicht, ihn erwidert zu haben. Ganz und garnicht; er war eben der schönste Kuss meines bisherigen, unausgefüllten Lebens.
Oder eben ein einmaliges Experiment besoffener Kumpels, wie Kris sagen würde.

Als hätte er meinen Gedankenzügen gelauscht und den richtigen Moment abgepasst, kam er genau in dem Moment aus dem Bad und rubbelte sich die Haare mit einem Handtuch trocken. Das Handtuch in derselben Farbe, wie das, was er locker um die Hüfte gewickelt hatte und was das einzige war, was er am Leib trug.
Ich atmete scharf ein, er grinste.
"Ich bin ziemlich heiß, ich weiß."
Seine nach oben zuckenden Augenbrauen passten zum schiefen Grinsen seines Mundes.

"Was?"
Völlig perplex versuchte ich, meinen Blick von ihm abzuwenden. Gott, hatte ich ihn etwa so offensichtlich angestarrt?
Er lachte warm und klopfte mir auf die Schulter.
"Etwa noch nicht genug von gestern Abend?"
Er kam mir nah, flüsterte schon fast und ließ seinen Zeigefinger meinen Oberkörper hinab fahren. Einen Moment lang setzte alles bei mir aus und ich starrte ihn einfach an und merkte, wie meine Atmung im Vergleich zu meinem Herzschlag aufgab, während auf meinen Wangen Hitze aufkam.

Kris prustete los und verfiel in einen derartigen Lachanfall, dass er sich auf die Couch fallen ließ und diesen dort auslebte. Ich seufzte und sammelte meine Gedanken. Für ihn war das alles ein Scherz.

"Ich geh' deine Wäsche holen.", brummte ich, was er wahrscheinlich nicht mitbekam, da er zu sehr damit beschäftigt war, nach Luft zu ringen und sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
Ich zupfte die frischen Kleider aus dem Trockner und lehnte meine Stirn gegen das kühle Metall.
Es versetzte mir einen Stich, wie Kris mit der Sache umging. Er erwartete von mir, dass ich daraus genauso einen Witz machte und es locker nahm, aber dazu war ich schlicht nicht in der Lage. Für mich war es eben kein Witz. Es war absolut nichts witziges daran, doch das konnte er nicht wissen, ich konnte es ihm nicht übel nehmen.
Mach' dir nichts vor, Jakob. Du könntest ihm generell nichts übel nehmen.

Ich drückte ihm seine gewaschenen Sachen vom Vortag in die Hand und er verschwand damit im Bad, bevor wir zur Bar fuhren, in der wir gestern gefeiert hatten und uns zum Aufräumen verabredeten.
"Na, wieder nüchtern?", begrüßte uns Johannes halbherzig, aber grinsend. "Jaki hat sich gut um mich gekümmert.", verkündete Kris ebenfalls grinsend. So nennst du das also?

Wir machten uns ans Aufräumen und wurden schnell damit fertig, so dass Anna in ihren Laden fuhr und Johannes sich mit der neuen, alten Gitarre beschäftigte, wobei Kris ihm half.
"Geht es dir gut?" Niels musterte mich mit diesem Blick, der verriet, dass ich garnicht erst zu lügen brauchte. Er erkannte einfach immer sofort, wenn etwas los war.
Eine der wohl besten Eigenschaften an ihm war, dass er einem jedoch immer frei überließ, wann und ob man darüber reden wollte, einen zu nichts drängte und doch das starke Gefühl vermittelte, dass er für einen da war. Immer.
"Kompliziert.", gab ich also seufzend zurück und ich spürte seine Hand beruhigend auf meinem Rücken.
Vielleicht wäre es doch besser, den Kuss zu vergessen, so wie er es tat.

Johannes begann die Melodie zu spielen, die er uns schon vor ein paar Tagen im Proberaum stolz präsentiert hatte, zu der er bislang keinen Text gefunden hatte. Doch die Griffe hatte er perfektioniert, was nicht zu übersehen war, so wie seine Finger über die Saiten tanzten und sein Gesicht von Stolz und Freude geziert war.
"Wir liebten das Leben..."
Es war nicht mehr, als ein Murmeln. Er wiederholte die Zeile mit passenden Griffen. "Wir liebten das Leben..." Er stoppte und sah fragend in die Runde. "Die Reise nach Schweden." Niels lachte und zuckte über seinen eigenen Vorschlag die Schultern.
"Den Sommer in Schweden?" Die Blicke richteten sich auf mich. Johannes nickte schnell und begann erneut, diesmal lauter und selbstbewusster.
"Wir liebten das Leben, den Sommer in Schweden." Er lächelte mich an, ich erwiderte. Allein die zwei Zeilen klangen wirklich schön und die zuversichtliche Melodie ließ meine eigentliche Laune weit in den Hintergrund ziehen.
"Die Welt hing an Fäden und alles war leicht und so klar, so wie es war..."
Kris starrte gedankenverloren auf den Boden, während er die Line mit zerbrechlicher Stimme sang, während Johannes und Niels sich kaum noch vor aufkommendem Enthusiasmus halten konnten.
"Hat hier noch jemand Bock auf einen spontanen Trip in den hohen Norden?"

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