Kapitel 16

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Ich schlief ganze 20 Stunden lang.
Als ich wach wurde, war ich immer noch müde, aber nicht mehr aufgrund von Schlafmangel. Erschöpft, wegen all den Geschehnissen und Gefühlen, die ich in der letzten Zeit verkraften und verarbeiten musste.
Damit war Schluss.
Ich würde heute einen Schlussstrich ziehen.

Mit diesem Vorhaben im Kopf ging ich ins Bad und streifte mir die Klamotten vom gestrigen Tag herunter, die ich nicht einmal mehr ausgezogen habe, als ich ins Bett gefallen war, und stieg in die Dusche. Ich ließ das prickelnd heiße Wasser ein paar Minuten einfach über mich laufen und entspannte, ehe ich mich fertig machte und frühstückte.
So langsam fühlte ich wieder die Angst in meinem Inneren, aber wenigstens fühlte ich. Ich war nicht mehr taub.
Trotzdem fragte ich mich, wie es jemals so weit kommen konnte, dass ich Angst davor hatte, Kris gegenüber zu treten. Kris.
Das sollte nicht länger so sein und das wussten wir hoffentlich beide.

Und dann, tatsächlich, fand ich mich wenig später vor Kris' Tür mit meinem Zeigefinger auf die kalte Wohnungsklingel pressend wieder.
Ich machte dem Fluchtreflex, der sich in meinem Kopf breit machte, klar, dass ich das jetzt tun musste.
Nicht nur für mich; für Kris' und meine und auch die Freundschaft zu den anderen.
Ich atmete tief ein und wieder aus und wischte meine Handflächen an meiner Jeans ab, dann öffnete sich die dunkelgrau lackierte Tür.
Ich spürte mein blödes, linkes Auge zucken.

Kris sah mich an. Nicht mit einem Ausdruck in seinen Augen, der meine Angst verstärkt hätte, aber auch mit keinem Ausdruck, der sie linderte. Obwohl die Tür nun offen war, war er völlig verschlossen.
Er schlug die Tür nicht direkt wieder zu, er schrie mich nicht an.
Er stand dort, sah mir direkt in die Augen und atmete so tief und langsam, dass man deutlich die Bewegung seines Brustkorbes erkennen konnte.

"K-kann ich 'rein kommen?", fragte ich kleinlaut und rechnete damit, dass er nun die Tür zuschlagen, schreien oder zumindest verneinen würde, doch nichts dergleichen.
Er trat stumm zur Seite und ging weiter ins offene Wohnzimmer, wo er den Fernseher ausschaltete und sich aufs cremefarbene Sofa setzte.
Ich folgte ihm monoton und blieb vor dem Sofa stehen.
Jetzt sah er mich nicht mehr an. Er starrte in seinen eigenen Schoß und ich fragte mich, wann er mir so fremd geworden war.
Es war fast schon, wie ein offenes Buch zu lesen für mich, zu erkennen, wie Kris empfand, was er sagen wollte, was er dachte, was er unterdrückte.
Jetzt nichts dergleichen. Ich hatte keine Ahnung, wer da vor mir saß.

"Willst du mir erklären, was das sollte?"
Keine Emotion in seiner Stimme. Er sah mich jetzt wieder an und ich sah das schöne, kühle Hellbraun, doch auch dort nichts, was ich irgendwie interpretieren könnte.

"Ich, äh, ich..." Mein Hirn suchte krampfhaft nach irgendeinem Ausweg. Irgendetwas, was ich sagen konnte, was die Freundschaft zu ihm nicht verändern würde, eine Ausrede gewissermaßen. Mein Blick zuckte ziellos und nervös durch den Raum, bis ich die Augen schloss.
Nein, keine Ausreden mehr.
"Kris, ich... Ich will einfach nur noch ehrlich zu dir sein." Ich erwiderte seinen Blick, der immer noch standhaft war.
"Ich hätte dich nicht einfach so küssen dürfen." Die Erinnerung daran knisterte kurz auf meinen Lippen, ehe der darauf folgende Moment mir kalt den Rücken hinunterlief.
"Das war falsch. Ich... Ich wollte nur mit dir reden. Dich endlich aufklären, was in letzter Zeit mit mir los ist, vor allem dich."

"Dann klär' mich auf.", sagte Kris, noch immer völlig ruhig und abwartend.
Mein Herz klopfte schmerzhaft fest gegen meinen Brustkorb.
"Es ist nicht so leicht in Worte zu fassen... Man, Kris. Ich habe wirklich Angst davor, unsere Freundschaft kaputt zu machen."
Meine Stimme war viel zu belegt und klang kläglich. Ich hatte mir geschworen, dass ich nicht anfangen würde, zu weinen.
Ich konzentrierte mich einen Moment, ehe ich es einfach sagte, zwar leise und ohne ihn anzusehen, aber ich sagte es.
"Ich empfinde etwas für dich, Kris."

Ich hielt meine Augen noch mehrere Sekunden geschlossen, wartete auf irgendeine Antwort. Ich dachte, ich würde mich danach befreit fühlen, stattdessen wuchs die Angst mit jedem kleinen Moment, der verstrich.
Erst als ich ihn wieder ansah, bekam ich eine Antwort.

"Und was erwartest du jetzt von mir? Ich bin nicht so wie du!"
Endlich erkannte ich einen Ausdruck, ein Gefühl. Er war angespannt, biss die Kiefer aufeinander. Redete laut, nicht mehr roboterartig.
"So wie ich?", fragte ich. Ich verstand nicht, was er meinte, worauf er hinaus wollte.
Er stand auf, sah sich einmal im Raum um und dann wieder direkt in meine Augen.
"Du liebst Männer.", erwiderte Kris, mit einer leicht ausladenden Bewegung seiner Hände und einem so selbstverständlich lockeren Unterton, doch da war noch etwas anderes.

Dieser Satz traf mich. Irgendwie hatte ich nie darüber nachgedacht, ob ich schwul war, ob ich auf Männer stand.
Es war immer nur Kris, über den ich nachdachte, über niemand anderen.
Dieser Gedanke überforderte mich so, dass in meine Augen Tränen aufstiegen und meine Stimme nur noch gebrochener klang;
"Ich liebe dich."

Und da war es wieder, dieses Etwas in seinen hellen Augen, das ich einfach nicht zuordnen konnte. Ich machte mich bereit, um zu gehen, doch da machte Kris einen Schritt auf mich zu, packte mich am Arm und lehnte sich zu mir herüber. In einer einzigen, schnellen Bewegung, zu schnell, als dass ich reagieren konnte, war er so nah.

Und dann küsste er mich.

•Du weißt nicht, was du fühlst.•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt