Kapitel 22

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Als ich am darauffolgenden Morgen von meinem penetranten Weckerton aus dem Schlaf gerissen wurde, zitterte ich noch immer.
Ich zitterte, mir wurde kalt bei dem Gedanken an Kris' Blicke, die er mir zugeworfen hatte.
Mir wurde kalt, begleitend mit dem Wissen, dass er mich für unreif hielt, für lächerlich, dass er mich auslachte.
Mir wurde kalt, wenn ich nun an ihn dachte, obwohl er mich so leicht in seiner Nähe zum Glühen bringen konnte.
Ich zitterte, vor Wut. Auf ihn, auf mich, auf die Kälte zwischen uns.

Wenig später klingelte es an der Tür, neben der ich daraufhin verwirrt den Summer betätigte und im Treppenhaus wartete, bis sich eine Silhouette zu den widerhallenden Schritten zeigte.
"Moin!", begrüßte mich Niels, in einem merkwürdigen Tonfall, als hätte er nicht erwartet, mich zu sehen.
"Morgen?", erwiderte ich fragend, machte ihm Platz im Türrahmen und wägte kurz die Möglichkeit ab, eine Verabredung mit meinem Freund vergessen zu haben.
"Lust, mal wieder 'ne Runde laufen zu gehen?", fragte der Gitarrist, griff sich einen Apfel aus meiner Obstschale und biss mit hochgezogenen Augenbrauen hinein.
Erst jetzt fiel mir auf, dass er leichte Laufklamotten und Turnschuhe trug.

Früher waren Niels und ich oft zusammen joggen gewesen. Besonders, wenn er mal Streit mit seiner Freundin Nicci oder ich Stress mit einer meiner Liebschaften hatte, einfach, um den Kopf frei zu bekommen.
Ich fragte mich, was ihn diesmal dazu verleitete, doch erinnerte mich, wie wahnsinnig befreiend und beruhigend das Laufen immer auf mich gewirkt hatte, also beließ ich es dabei, warf mich kurzerhand ebenfalls in meine Sportsachen und spürte kurz darauf die angenehm laue Brise auf den Straßen.

Anfangs joggten wir in einem eher trabenden Tempo nebeneinander her, schweigend, still.
Ich versuchte, mich auf unseren Rhythmus zu konzentrieren, zum gleichmäßigen Takt meines Herzschlags zu entspannen.
Doch immer, wenn ich meine Augen für einen kurzen Moment schloß, die Luft durch meinen Mund entweichen ließ, drängte sich Kris' Bild zurück in meinen Kopf.
Mein Körper überzog sich mit Gänsehaut, ich verspürte ein Gefühl von Angst, verkrampfte.
Ich hatte Angst, ihm gegenüber zu treffen. Schon wieder, immer noch.
Mich überfiel der instinktive Fluchtreflex und ich nahm kaum noch etwas aus meinem Umfeld war. Es gab nur noch dieses aufreibende Gefühl, das Adrenalin in meinen Adern, die aufeinander gebissenen Kiefer.

Ich merkte erst, wie schnell und wie weit ich gerannt war, als ich verwundert vor der Elbe stehen blieb und an einer Absperrung Halt machte.
Mein Herz raste und mein Atem war völlig außer Kontrolle, meine Lunge schmerzte, während ich mich an das dunkle Metall vor mir klammerte und aufs Wasser starrte.
"Ich wusste gar nicht, dass du sprintest wie ein 20-jähriger Olympiasportler.", drang Niels' Stimme langsam an mein Ohr, keuchend, mit Pausen, um Luft zu holen, "Wann bin ich so alt geworden?"
Ich sah über meine Schulter, er stützte seine Hände auf die Knie und ließ den Kopf hängen.
Ich lächelte triumphierend und sah zurück aufs Wasser.

"Hat's dir denn geholfen?", wollte Niels wenig später wissen, als er mit sich noch immer viel zu schnell hebendem und senkendem Brustkorb neben mir an der Reling stand.
Ich sah ihm lediglich fragend ins errötete Gesicht.
Er schien sich seine Worte lang zurechtzulegen, bevor er antwortete.
"Ich war in letzter Zeit nicht fair zu dir. Ich habe dich gedrängt, zu erzählen, was los ist und habe dich verantwortlich dafür gemacht, was für eine Stimmung bei uns herrscht. Das war falsch, das weiß ich. Wenn du nicht darüber reden willst, ist das völlig legitim, ich bin ja selbst nicht der größte im Worte finden."
Er hob seinen Kopf, seine meerblauen Augen sahen abwechselnd intensiv in meine, "Trotzdem wollte ich dir irgendwie helfen, schließlich bist du Teil meiner Familie."
Sein unsicheres Lächeln übertrug sich unvermeidbar auf mein Gesicht.
"Ich wusste ja nicht, dass du mich so fertig machen würdest, Sinn.", fuhr er fort, was mich kurz zum Auflachen brachte.
Ich legte meine Hand auf sein Schulterblatt, als wir unsere Blicke wieder auf die Elbe gerichtet hatten.
"Danke, Niels. Ehrlich."

***

Mit dem fest gefassten Entschluss in meinem Kopf, drückte ich die schwere Tür zum Proberaum auf und sah direkt in das Gesicht unseres Managers.
"Schön, dann wären wir komplett! Hier auch ein Kaffee für dich, Jakob.", begrüßte mich Sascha und überreichte mir einen Pappbecher, wie auch die Übrigen jeweils einen in der Hand hielten.
"Danke", erwiderte ich knapp und setzte mich neben Johannes, der mich zur Begrüßung angrinste und dann wieder seine Aufmerksamkeit auf den gut gelaunten Manager richtete.

"Was gibt's, Papa?", fragte er Sascha neckend, der sich seinen Spitznamen selbst zuzuschreiben hatte.
"Ich hab' euch nur was Kleines mitzuteilen, dann bin ich auch schon wieder weg", verkündete er.
"Das GQ-Magazin startet 'ne Aktion mit einigen prominenten Männern und denen sind jetzt Zwei abgesprungen. Daraufhin haben sie gefragt, ob zwei von euch spontan Lust und Zeit hätten. Es geht um ein kleines Shooting und Interview und ist auch noch super geeignet, um etwas Werbung für's Album zu machen." - "Was genau ist das denn für eine Aktion?", hakte Niels neugierig nach.
"Ich bin froh, dass du fragst!", grinste Sascha ihm zu.
"Also - das Ganze läuft unter dem Titel "Mundpropaganda - Gentlemen gegen Homophobie". Es geht darum, dass sich jeweils ein Pärchen von prominenten Heteros vor laufender Kamera küsst, um Statements zu setzten."
Begeistert sah Sascha in die Runde; "Was sagt ihr?"

Nach kurzer Stille räumte Jo ein "Ich find's super, ich mach's!" ein. "Wann soll's stattfinden?", wollte der Sänger wissen.
"Schon morgen.", meinte Sascha.
"Ich würd's auch sofort machen, aber morgen kann ich nicht. Ich hab' Nicci versprochen, zuhause zu bleiben.", erwiderte Niels.
"Jakob, würdest du dann vielleicht...?", fragte Sascha.
"Was - ich?"
Überfordert sah ich in seine erwartende Mimik.
"Oder hast du ein Problem damit?"
Ein Problem mit Schwulen?
"N-Nein... Ich mach's."
Mit rasendem Herzen drückte ich mir ein Lächeln auf und sah unsicher zu Johannes, der mich provokant anzwinkerte.
"Was für ein süßes Paar.", schaltete sich plötzlich Kris ein, der noch kein einziges Wort gesagt hatte. Die Anderen lachten auf, doch ich bemerkte seinen resignierten Blick in seinen Kaffeebecher.
Ich schluckte.

•Du weißt nicht, was du fühlst.•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt