Kapitel 6

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"Ihr... ihr seid doch völlig wahnsinnig!"
Johannes' weit aufgerissener, perplexer Blick flog immer wieder zwischen dem halb aufgerissenen roten Papier und uns hin und her. Niels und Kris zu meiner linken grinsten breit und zufrieden. "Das... das kann ich nicht annehmen" - "Jetzt red' keinen Stuss, natürlich kannst du das. Alles Gute, Alter!"
Kris war der erste, der den immer noch völlig baffen Johannes fest in den Arm nahm, der nun auch strahlend lächelte und sich über die antike Gitarre freuen konnte.
"Ihr seid echt die besten, Jungs", grinste er kopfschüttelnd und sich am Hinterkopf kratzend, und schloss nun auch Niels und mich ausgiebig in die Arme.
"So, jetzt wird aber gefeiert! Mir dürstet es nach Bier!", beschloss Johannes, gewandt an seine Gäste, nachdem er sich wieder gefangen hatte. "Du wirst heute 33 - weißt du überhaupt, was das bedeutet? Nix da mit Bier!"
Niels schob die kleinen Gläser mit klarer Flüssigkeit von der Mitte des Tisches in Richtung der einzelnen Leute. "Es heißt nicht umsonst Schnapszahl, Strate.", waren seine letzten Worte, mit hochgezogenen Augenbrauen und triumphierendem Grinsen, ehe er das hochprozentige Gesöff, gefolgt von uns anderen, herunterspülte.
Unsere Band trank dieses Zeug seit Jahren und wir waren schon längst abgehärtet gegen den absolut widerwärtigen Geschmack, der sich anfühlte, als würde sich alles zusammenziehen oder weggeätzt werden, weshalb wir uns ziemlich über die verzerrten Gesichter der anderen kaputt lachen mussten; vor allem Anna, Johannes' Freundin, "genoß" ihr Getränk sehr.

"Jakob, wollen wir kurz draußen reden?" Kris' Lippen an meinem Ohr und seine Bitte rissen mich aus der behaglichen Umgebung heraus.
Ich schluckte. Worüber wollte er mit mir reden? Sein Gesichtsausdruck war ernst, als ich hineinsah.
Mein Herz ging schneller, doch ich nickte und folgte ihm durch die laut aufgedrehte Musik und die ersten tanzenden Menschen nach draußen, an die recht kühle Übergangsluft zwischen Winter und Frühling.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, da ich sonst das Gefühl hatte, mein Herz würde sich los reißen und auf dem dreckigen Asphalt landen. Kris setzte sich vor mich auf eine kleine Mauer, doch ich blieb stehen. "Was gibt's denn?", rang ich mich schließlich zu fragen durch.
Er machte es spannend und schwieg weiter, starrte in Richtung seiner Füße und wippte mit seinen Knien. Es schien so, als würde er sich fast einen Spaß daraus machen, mich so auf die Folter zu spannen. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Ich machte mir völlig umsonst Sorgen, es ging wahrscheinlich nur um irgendwas Kris-haftes, einen Scherz. Oder?
"Ich, ich weiß nicht genau. Du benimmst dich so komisch in letzter Zeit, völlig anders als sonst..."
Oder auch nicht.
Er ließ seine Worte keinesfalls klingen wie ein Vorwurf. Mehr wie laut ausgesprochene Gedankenzüge, ohne Hintergrund.
Ich hielt meinen Blick weiterhin starr auf ihn gerichtet und meine innere Stimme hatte Mühe damit, bis zu meinem Gehör vorzudringen; Einatmen.
Ich spürte, wie sich die Nägel meiner rechten Hand in meinen linken Oberarm bohrten. Der Schmerz war da, doch er war mir egal. Unterschwellig vermittelte er mir, bei Verstand zu sein.
Ausatmen.
Er sah hoch, unsere Blicke trafen sich. Das Braun seiner Augen krallte sich im unsicheren Blau meiner fest, fragend, erwartungsvoll. Er erwartete, dass ich etwas dazu sagte, doch ich wusste nicht, was. "Hat es was mit mir zutun?"
Einatmen.
Diese Frage überrumpelte mich.
Ich blinzelte. Ich wusste, das war der Moment. Worte wirbelten wie ein Tsunami durch meinen Kopf, doch über meine Lippen kam nichts.
"Jakob, dein Auge zuckt. Ich kenn' dich und merke das doch. Du kannst mit mir reden." Seine wunderschöne Stimme hatte etwas trauriges, verletztes, flehendes in sich. Die Annahme, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass er etwas falsch gemacht hätte.
Dieses blöde Zucken.
"Nein, nein Quatsch." Mein Mund sprach schneller, als mein Hirn hinterher kam.
Ausatmen.
"Es hat rein gar nichts mit dir zutun, Kris. Wirklich.", versicherte ich ihm, unterstrichen von einem lässigen, unterschwelligen Grinsen und meiner Hand auf seiner Schulter, die mittlerweile von dem Druck auf meinen Oberarm schon ganz weiß war.
Idiot. Du bist so ein Idiot, Jakob.
Er atmete erleichtert aus.
"Ich dachte schon es wäre wegen der Solo-Karrieren-Sache..." Ich setzte mich neben ihn und starrte auf die verlassene Straße, während er noch weiter vor sich hin faselte.
Mein Herzschlag normalisierte sich langsam wieder und es machte sich große Erleichterung in mir breit; und doch war ich irgendwie enttäuscht. Von mir selbst.
Ich wollte mit ihm darüber reden, wirklich. Doch ich ließ den Moment verstreichen und jetzt war er für immer weg, nur weil ich mich nicht traute, so ein Feigling war. Verdammt.
"Aber... wenn du reden willst", holte seine warme Stimme mich zurück neben ihn auf die kalten Backsteine, "Ich bin für dich da, Kumpel."
Kumpel. Mehr als das würde ich nie für ihn sein. Er schlang seine Arme um mich; hinter meinen Lidern prickelten Tränen, als ich schnell nickte. Meine Arme um seine Mitte fühlten sich für ihn an, wie die Arme eines engen Kumpels. Seine Arme auf meinen Schulterblättern fühlten sich wie das reinste Glück an, das ich kannte.
"Lass uns wieder 'reingehen."

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