Kapitel 4

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"Jakob, Essen ist fertig!"
Niels' tiefe Stimme riss mich aus meinen gleichmäßigen Schlägen des Schlagzeuges heraus.
Ich trottete seufzend die Treppe hoch zu den anderen, die sich in der kleinen "Küche", falls man diese so bezeichnen konnte, bereits versammelt hatten und ließ mich lustlos auf einen der Stühle fallen.
"Lasst es euch schmecken.", sagte Niels, nachdem er seine Jacke ausgezogen hatte und biss beherzt in seinen triefenden Hamburger hinein. "Das hast du super gekocht, Grötsch.", grinste Jo, während er die Tüte des Imbisses beiseite schob und ihm löblich auf die Schulter klopfte. "Vielen Dank", nuschelte Niels mit vollem Mund und saugte sich den Ketchup von den Fingern.
Ich schob mir eine Pommes in den Mund, obwohl ich eigentlich gar keinen Hunger hatte und lauschte dem, was meine besten Freunde von ihren heutigen Fortschritten erzählten.
Nur ich war noch keinen Takt weiter, als vor einer Woche. Mein Hirn wollte sich einfach nicht auf die Musik konzentrieren; sobald ich auf dem Schlagzeug-Hocker saß oder einen Stift und leeres Notenpapier in der Hand hielt, löste sich eine Rückkopplung in meinem Kopf und alles war wie weggewischt.

Ich ertappte mich dabei, wie ich Kris beobachtete. Wie so oft, in der letzten Zeit.
Ich meine, wie konnte ich auch anders? Und wie konnte man so niedlich dabei aussehen, während man einen viel zu großen Bissen nach dem anderen von seinem Burger nahm, dabei verschmierte Sauce in den Mundwinkeln kleben hatte und eine Tomatenscheibe, die wahrscheinlich das einzig gesunde, nicht Herzinfarktrisiko-erhöhende Element des Brötchens war, ihm auf den Schoß plumpste? Bei wirklich jedem anderen hätte mich dieses Bild vollkommen abgestoßen. Bei jedem. Nur eben bei ihm nicht. Er schaffte es auf mysteriöse Art und Weise, selbst dabei noch immer verdammt süß auszusehen.
Ich verbarg mein Grinsen und biss mir auf die Wange.

"So Leute, ich mach' mich wieder ans Werk." Johannes wischte sich die fettigen Hände an einer der Papierservietten ab und klopfte Niels erneut scherzend auf den Rücken; "Du solltest uns öfter bekochen." - "Das finde ich auch", lachte Kris, der nun ebenfalls aufstand und die Bürotür hinter sich schloss.
Ich starrte auf seinen leeren Platz. "Alles okay?"
Ich schreckte auf. Erst beim Blick in Niels' fragenden Gesichtsausdruck mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen fiel mir wieder ein, dass er überhaupt noch dort saß.
"Hm? Äh ja, alles gut. Ich sollte wohl auch wieder an die Arbeit."
Viel zu schnell und deutlich zu hektisch huschte ich die Treppen zu meinem Schlagzeuger-Bunker wieder hinunter und spürte Niels' verwirrten Blick im Rücken.

Ich warf die Tür in ihre Angeln, sodass ein lauterer Knall, als geplant, entstand. Es keimte Wut in mir auf. Wut, auf mich selbst. Ich musste aufhören, mich so dämlich und merkwürdig zu verhalten, dass alle dachten, es würde etwas nicht mit mir stimmen.
Ich setzte mich erneut auf den Hocker hinter den Drums und atmete mit geschlossenen Augen tief durch.
Ich griff nach einem Paar meiner Sticks und plötzlich war alles da.

Eine Bassline baute sich vor meinem inneren Auge auf und spielte sich von selbst. Ich ging der Melodie in meinem Kopf nach und merkte erst nach einigen, erschöpfenden Minuten und noch mehr heftigen Hieben auf die gespannten Trommeln, wie stark ich aufgeschlagen hatte und alles rauslassen konnte. Ich fuhr mir mit dem Unterarm über die Stirn, auf der sich Schweißperlen gebildet hatten. Meine Ohren klingelten und die Handgelenke schmerzten ebenso wie die fest umklammernden, fast schon verkrampften Finger um das erwärmte Holz der Sticks, doch ich spürte nichts mehr. Nur Erleichterung.

"Was war denn das?"
Mein Kopf schnellte herum zu der geplätteten, überraschten Stimme ein paar Meter neben mir.
"Seit wann..." - "Jay, das war ja Wahnsinn! Hast du das schon aufgeschrieben? Das musst du unbedingt festhalten!" - "Ich..."
Kris holte einen Bleistift und einen Notenzettel vom Schreibtisch und hielt es mir erwartungsvoll mit geweiteten Augen hin. Mit seinen glitzernd strahlenden, tiefbraunen, großen Augen.
Ich nahm es ihm einfach stumm ab und schrieb die Paar Zeilen mit zittriger Hand nieder. "Das passt perfekt zu 'ner Melodie, die ich seit ein paar Tagen im Kopf habe..." murmelte er und kaute kurz auf der Unterlippe, ehe er voller Tatendrang wieder aufsah. "Warte kurz, ich hol' 'ne Gitarre und dann spielen wir das mal zusammen, ja?" Völlig aufgeregt sprang er die Treppen nach oben, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ich blieb vollkommen überrumpelt auf die hingekritzelten Noten starrend zurück und sprach wie ein völlig Irrer zu mir selbst.
Ruhe bewahren.

•Du weißt nicht, was du fühlst.•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt