17. Kapitel

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"Lass dich noch einmal umarmen", seufzte Rosalyns Mutter.
Früh morgens hatte sich die junge Novizin auf den Weg gemacht, ihre Familie zu besuchen. Wie sehr sie ihr Zuhause und ihre Familie vermisst hatte, wurde ihr besonders jetzt bewusst, als sie all das wieder vor ihren Augen sah. Und was für ein Gesicht ihre Eltern gemacht hatten, als sie schließlich von ihrer Freundschaft zu Jaromir erzählt hatte. Ihr Vater war eineige Minuten lang nicht aus dem Schweigen heraus gekommen. Ganz im Gegensatz dazu hatte sich ihre Mutter schnell von dem offensichtlichen Schock erholt. "Wann wirst du ihn uns denn vorstellen? Er hätte doch heute gleich mitkommen können!", meinte sie erfreut, als sie ihr gerade ein zweites Mal Essen ausgeteilt hatte.
Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte auch ihr Vater wieder aufgeschaut. "Allerdings. Mit diesem jungen Herren würde ich nur zu gerne auch mal ein Wörtchen reden."
Unisono hatten Rosalyn und ihre Mutter die Augen verdreht und geseufzt.

"Du könntest auch noch länger bleiben, weißt du?", sagte ihr Vater leise, als sie sich zum Abschied fertig gemacht hatte." Er drückte ihr zögernd ihre Tasche in die Hand, wartete aber, ob seine Tochter sie nicht ablehnen wollte.
Entschlossen griff sie nach dem Lederriemen und nahm sie ihm ab. "Ich weiß, aber ich muss jetzt wirklich loß."
"Ist ja gut. Wir werden dich nicht aufhalten", fügte ihre Mutter mit einem schmalen Lächeln hinzu. "Ich wünsch dir viel Spaß für heute Nachmittag. Und pass auf dich auf, wo auch immer es mit Jaromir hingeht."
Rosalyn nickte knapp und wandte sich dann zum Gehen um.
"Schreib uns bald wieder, ja?", rief ihre Mutter noch hinterher.

Die Straßen der Stadt waren voller Menschen, die in der Mittagssonne die Gassen füllten. Es dauerte länger als üblich, bis sie sich hindurch gedrängt hatte und die Tore der Gilde erreichte. Von da an ging es schneller - auf den Wegen über das Gelände der Gilde bis zu den Treppen der Universität. Dort, an das Geländer der imposanten Stufen gelehnt, sah sie schon von weitem einen jungen Novizen warten. Er hatte seine braune Robe gegen ein schwarze Hose und ein schlichtes, dunkelblaues Hemd getauscht. Als er sie erblickte stieß er sich von der Mauer ab und kam langsam auf sie zu. Auf seinem Gesicht ein schelmisches Grinsen und seine Augen musterten sie, wie sie ihm in einem Sommerkleid entgegen kam.
Er schloss sie in seine Arme und neigte seinen Kopf zu ihr hinunter. Seine Lippen streiften ihre Wange vorsichtig. "Musst du noch mal in dein Zimmer oder können wir direkt los gehen?", fragte er sie leise, und sein Atem streifte ihren Nacken.
Rosalyn neigte sich zurück, immernoch gehalten in seinen Armen, um ihm in die Augen blicken zu können. "Von mir aus kann's los gehen." Sie biss sich auf die Lippen und kniff die Augen ein Wenig zusammen. "Und du willst mir immernoch nicht sagen wo wir hingehen?"
Jaromir lachte laut auf. "Ganz bestimmt nicht." Er löste den Griff seiner Arme und streckte seine Hand stattdessen nach ihrer Hand aus. Ihre Finger legten sich wie selbstverständlich in seine. Er führte sie hinter sich her.
Der Kiesweg, der sie an den Gärten vorbei führte, knirschte leise unter ihren Schritten, als sie in Richtung der Residenz des Hohen Lordes liefen. Ihr Weg führte allerdings daran vorbei und schnell wurde Rosalyn klar, dass er wohl nur die Ställe ansteuern konnte. Kurz darauf betraten sie das flache Gebäude, und traten zwischen die in Zwielicht getauchten Pferdeboxen. Der Geruch von  frischem Stroh schlug ihnen entgegen und über ihren Köpfen, in den Lichtstrahlen der schmalen Fenster, tanzten Staubkörnchen in der Luft.
Rechts neben ihnen sprang ein junger Stallbursche von seinem Platz am Fenster auf. Er war kaum älter als die zwei Novizen, hatte aber eine kräftige und gedrungene Statur. Um so erstaunlicher war es, seine hohe, kindliche Stimme zu hören als er seinen Kopf vor ihnen neigte und Jaromir ansprach. "Die Pferde stehen bereit. Bitte folgt mir." Sein Arm wies in den halbdunklen Gang, der an den unzähligen Boxen vorbei führte. Aber schon nach ein paar Dutzend Metern bog er nach links und trat durch eine unscheinbare Holztür aus dem Gebäude. Als Rosalyn ihm folgte, erblickte sie zwei große Pferde, ein rotbraunes und dahinter ein graues, angebunden an etwas verrosteten Wandhaken. Sie waren gesattelt, gezäumt und mit großen Satteltasche versehen. Mit langsamen Schritten lief sie dem Fuchs entgegen und streichelte seinen langen Hals. "Ähm Jaromir... wir das ein längerer Ausflug?" Ihr Blick sprang zwischen ihm und denn vollgepackten Satteltaschen hinterher.
"Keine Sorge, vertrau mir." Er bedankte sich bei dem Stallburschen und schwang sich dann in einer fließenden Bewegung auf den Sattel des Schimmels. "Steig auf, Rose. Wir haben schon genug Zeit vergeudet."
Der bullige Junge aus dem Stall drückte ihnen die Zügel in die Hände und sah noch zu wie sie auf das Tor zu ritten, ehe er sich wieder in den Stall begab.
Rosalyn blieb dicht hinter Jaromir und gemeinsam suchten sie sich einen Weg durch die Stadt. Nicht selten sprangen die Menschen ihnen gerade noch rechtzeitig aus dem Weg, wenn sie um eine Ecke bogen. In raschem Tempo erreichten sie das Südtor und konnten auf der ausgebauten Straße noch an Geschwindigkeit dazu gewinnen.

Rosalyn genoß den Wind, der ins Gesicht schlug. Kaum dass sie das Tor durchquert hatten ließ sich Jaromir zu ihr zurückfallen und drosselte seine Geschwindigkeit. Die Menschenmengen hatten sie hinter sich gelassen und vor ihnen erstreckte sich nur das weite und flache Küstengebiet.
Jaromir öffnete seinen Mund und rief ihr etwas zu, doch seine Worte trug der Wind davon. Sie zuckte mit den Schultern und zeigte, dass sie keine Silbe verstanden hatte.
Noch in dem Moment spürte sie es. Wie eine sanfte Berührung von etwas Fremden an ihren Gedanken, das ihr gleichzeitig seltsam bekannt schien.
-"Vermisst du soetwas nicht auch, wenn du an der Gilde bist?", fragt er sie ohne noch einmal seine Stimme zu erheben. "Wir kommen aus dieser Universität garnicht mehr heraus. Sie predigen uns immer möglichst viel von der Welt zu sehen, aber wie soll das gehen, wenn man ja doch jeden Nachmittag mit Lernen verbringen muss..."
Seine Gedanken schossen ihr in den Kopf und sie genoss die Geschwindigkeit und Reibungslosigkeit, mit der sie miteinander reden konnten. "Ja. Es tut gut, mal aus der Stadt raus zu kommen."
Die Pferde trugen sie weit auf der Straße entlang in Richtung Süden. Strahlend hell stand die Mittagssonne über ihnen. Doch rollte sie nicht sehr weit auf ihrer Bahn durch das bewölkte Blau, bis der junge Novize seinen Schimmel vom Weg führte. Er zeigte ihr einen schmalen Pfad, der durch die hohen Sträucher am Wegrand führte und verschwand. Gleich mehrere kleine Äste trafen Rosalyns Gesicht, als sie ihm folgte und sie zuckte erschrocken zusammen. "Bei allen Göttern, Jaromir! Wo führst du mich denn hin? Was gibt es hier draußen schon?", rief sie ihm zu.
"Du wirst es gleich sehen", antwortete er ihr und ritt tiefer in die bunten Orange- und Gelbtöne der Büsche. Sie konnte spüren, wie der Weg unter den Pferdehufen herabführte; mal steiler und sie mussten bedacht einen sicheren Tritt finden - mal flacher mit nur vereinzeltem Geröll. Jaromir verschwand plötzlich um eine sanfte Kurve und als Rosalyn ihm folgte erblickte sie endlich, was sein Ziel gewesen war. Während ihre Blicke über ihre Umgebung schweiften blieb ihr die Stimme weg. Was sollte sie bei einem solchen Anblick schon sagen?
Ihr Freund und Begleiter sprang von seinem Schimmel und hob sie vorsichtig aus dem Sattel. Mit dem Daumen strich er über zwei kleine Kratzer, die die Äste an ihrer Wange und ihrem Hals hinterlassen hatten. "Das tut mir leid, Rose" Er neigte sich zu ihr und fuhr mit seinen Lippen zärtlich über die kleinen Schrammen - bis sie sich schließlich auf ihren Mund legten. Und ohne den Kuss zu unterbrechen fügte er hinzu: "Ich hoffe nur, dass dies die Mühen einigermaßen wert sind."

Die Gilde der Magier (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt