16. Kapitel

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Mit verschränkten Armen saß Rosalyn vor ihrem Fenster. Völlig regungslos ließ sie ihren Blick schweifen, ebenso wie ihre Gedanken. Dass der Schatten, den die Gilde auf das Gelände warf, immer länger wurde und bald den Waldrand erreicht hatte, nahm sie überhaupt nicht wahr. Aber die vom Wind bewegten Blätter der Wipfel schienen den Untergang der Sonne hinter dem alten Gebäude bereits im Voraus zu ahnen und leuchteten noch einmal in ihren allerschönsten Farben bevor sie in das Grau des Schattens eintauchten. Es war ein wogender Tanz - begleitet von dem Konzert des rauschenden Windes und dem Chor der Vögel, die ihr Dämmerungslied sangen. Hätte die junge Novizin eins ihrer Fenster geöffnet, so wäre der Klang bis zu ihr gedrungen. So aber geschah all das ohne eine Notiz von ihr und in ihrer Abgeschiedenheit von der Natur draußen dachte sie an ihren Nachmittag. Und ganz besonders an die Folgen, die er haben könnte.
Irgendwann hörte sie das erwartete Klopfen an der Tür. Ganz ruhig, Rosalyn, ganz ruhig. Locker bleiben und bloß nicht angespannt wirken...Kurz darauf schwang die Tür auf und Jaromir betrat vorsichtig das Zimmer. "Kann ich reinkommen?", fragte er leise, fast als erwarte er Dorrien irgendwo zu entdecken.
"Du bist doch schon längst reingekommen." Ihre Erwiederung zeichnete ein kleines Schmunzeln auf seinem Gesicht. "Er ist schon lange weg. Er war eigentlich auch überhaupt nicht lange hier..."
Wieder setzte er sich auf die Bettkante - auf genau den gleichen Platz, wo er vor ein paar Stunden erst gesessen war. Schnell rückte Rosalyn ihren Schreibtischstuhl richtung Bett und setzte sich ihm gegenüber. Wieder neben ihm auf dem Bett zu sitzten, wär ihr wie ein viel zu reales Déjà-vu vorgekommen.
"Aber wie lief es denn jetzt mit ihm? Was hat er gesagt?" Dass ihn ein Teil des Gespräches ganz besonders interessierte, war viel zu offensichtlich.
"Nun ja, wenn mich seine Meinung zu diesem Thema interessieren würde, hätte ich jetzt praktisch seine Einwilligung dazu." Sie wählte ihre Worte vorsichtig und mit Bedacht. "So sehr ich ihn als Mentor auch schätze: in dieser Hinsicht ist es mir egal was er davon hält."
Jaromir nickte langsam und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. "Und... ähm... wie denkst du davon?"
Aus irgendwelchen Gründen hatte sie so eine Frage von ihm schon erwartet. Wie sollte es schon weitergehen wenn sich sich im Unklaren über die Meinung des anderen waren? "Ich denke, mein Gehirn ist gerade viel zu überwältigt davon, als dass ich irgendeinen nüchternen Entschluss treffen könnte. Aber... mir will auch nichts einfallen was dagegen spricht."
Im nächsten Augenblick war Jaromir schon aufgestanden und zu ihr gegangen. Blitztschnell beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie. Er presste seine Lippen auf ihre und augenblicklich wurde Rosalyn klar, wie verloren sie war. Sie schloß die Augen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sanft wanderte sein Mund ihren Hals entlang und sein heißer Atem schickte warme Schauer durch ihren Körper. "Du musst mich doch für verrückt halten, nach all dem, wie ich dich in der letzten Zeit fast ignoriert habe. Ich glaubs nicht, dass du mir das alles verzeihst."

Es hatte keine Woche gedauert bis die meisten Schüler der Gilde erfahren hatten, dass Rosalyn mit Jaromir ging. Einmal wurde sie sogar in der Bibliothek von einer viel älteren Novizin gefragt, ob es wahr sei, dass sie schon jetzt dem ganzen Haus Velan vorgestellt worden sei. Und was denn seine Eltern dazu gesagt hätten, da sie ja nicht aus den reichen Häuserfamilien stammt. Auch einige Lehrer hatten davon erfahren und teilten sie wohlwissend immer in die gleiche Gruppe, wenn die Novizen zusammen arbeiten durften. Lord Kiano aber, einer ihrer stengsten Lehrer in Heilkunde, setzte fast jede Stunde seine Warnung in die Tat um, sie auseinanderzusetzen sobald sie nur leise miteinander zu flüstern begannen. Wie laut dabei der Rest der Klasse war, spielte gar keine Rolle.
Nach einer weiteren Stunde bei ihm über Pflanzenkunde nahmen die beiden einen kleinen Umweg durch die Gärten in Kauf, bis sie sich mit den anderen zum Mittagessen im Tagessaal treffen würden.
"Ich habe vor, diesen Samstag meine Famillie mal wieder zu besuchen. Das ist schon längst überfällig geworden", begann sie, als sie zwischen die niedrigen Ligusterhecken traten.
Jaromir nickte. "Mir kommt da eine Idee: was hälst du davon, wenn wir beide unsere Familien besuchen und danach noch einen kleinen Ausflug machen?"
Überrascht hob Rosalyn die Augenbrauen. "Ähm, ja. Wieso nicht... Aber wohin willst du denn gehen?"
Grinsend griff er nach ihrem Handgelenk und zog sie mit sich auf einen abzweigenden Weg. "Mir wird schon was einfallen. Lass dich überraschen!"
Schnell stolperte sie ihm hinterher und merkte, dass er eine kleine Bank ansteuerte, die halb versteckt in einer kleinen Laube stand. Er ließ sich darauf fallen und zog sie neben sich. "Und? Wirst du von mir reden? Mich vielleicht erwähnen?", fragte er sie frei heraus mit einem schelmischen Ausdruck auf dem Gesicht.
Kichernd sah Rosalyn ihn an. "Wovon redest du?"
"Vom Besuch bei deinen Eltern. Du wirst ihnen doch von mir erzählen, oder?" Seine Hand griff nach ihrer. "Wir hatten doch nicht vor, das zu verbergen... "
"Natürlich werde ich von dir erzählen, wo denkst du nur hin? Denen könnte ich doch sowas nicht verheimlichen."
"Das finde ich nur fair", antwortete er. "Immerhin weiß meine Familie durch Arantin schon längst davon. Und nun", fügte er hinzu, "würde ich sehr gerne was essen gehen, sonst verhunger ich hier noch."

Sie waren die Letzten ihres Semesters, als sie in dem großen Saal ankamen. An den langen Tischbänken, an denen ihre Mitschüler saßen, hatte Daya ihnen  noch zwei Plätze freigehalten. Als sie sich mit ihrem Essen nebeneinander hinsetzten, nickte Jaromir plötzlich zu einem älteren Novizen, der gerade vom gegenüberliegenden Tisch aufstand. "Siehst du den Jungen da?", fragte er Rosalyn und stupste sie kurz an.
Sie schaute schnell unauffällig in seine Richtung. "Was ist mit ihm?"
Jaromirs braune Haaren sprangen hin und her als er lachend seinen Kopf schüttelte. "Der hat gestern im Badehaus irgendeinem anderen Typen erzählt, ich wäre derjenige gewesen, der die Wette aus der Arena so hoch gegen dich verloren hätte. Dass ich fast hinter ihnen stand haben sie dabei leider nicht gemerkt. Aber dass es darüber so viele Gespräche gegeben hat, kann ich immer noch nicht glauben. Und allem Anschein nach sind dabei die verrücktesten Geschichten entstanden."

Die Gilde der Magier (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt