Dankbar riss ich den Duschvorhang zur Seite und quetschte mich in den engen Raum. Die grauen Steinwände sorgten für eine düstere Atmosphäre, doch es kümmerte mich nicht.
Wasser.
Endlich.
Erleichtert drehte ich den Hahn auf und ließ die kalte Flüssigkeit über meine nackte Haut laufen. Mit einem Seufzen fuhr ich mir durch das nasse, braune Haar und sah gefesselt zu, die die einzelnen Tropfen über meine Haut perlten. Ein wunderschöner Anblick von dem ich mich kaum losreißen konnte.
Die Erlösung kam mit dem Wasser. Ich konnte fühlen, wie die schmutzige Schicht fortgewaschen wurde. Tatsächlich verschwand bräunlicher Dreck im Abfluss, aber ich wusste, dass ich noch immer nicht rein und sauber war. Es sollte verschwinden! Ich wollte mich wieder gut fühlen.
Hektisch griff ich zum Duschbad und öffnete es mit meinem Daumen. Die flüssige rosa Seife lief immer und immer wieder über meinen Körper. Ich drückte so oft auf die Verpackung, dass ich es gar nicht mehr zählen konnte. Irgendwann stellte ich fest, dass das Duschbad leer war. Ich hatte wirklich die ganze Packung aufgebraucht, allerdings blieb das schmutzige Gefühl.
Wimmernd tastete ich nach der festen Seife auf dem Ablagebrett und rieb damit über jeden Zentimeter meines Körpers. Dann ließ ich das Wasser erneut auf mich herabprasseln, damit es all die Angst und die Vorwürfe mitnehmen konnte.
Nur in ein Handtuch eingehüllt verließ ich mein kleines Badezimmer und kehrte in mein Einzelzimmer zurück. Mama und Papa hatten sich erst vor wenigen Minuten verabschiedet, morgen früh sollten sie mich abholen. Die Ärzte wollten mich für eine Nacht noch hier lassen, Grund für diesen Entschluss war vermutlich mein Ausraster vorhin. Außerdem hatten meine Eltern verlangt, dass Tamara mir weiter zur Seite stand, bis man mich an einen anderen Psychologen überweisen würde.
Die einheitlichen Schlafklamotten - ebenfalls vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt - waren wir zu groß und hingen wie ein Kartiffelsack an meinem schlanken Körper ohne bemerkenswerte Rundungen herab. Ich fühlte mich in der unpasenden Kleidung verloren und allein gelassen, genau wie mit meiner jetzigen Situation und meinem kompletten Leben.
Wie hypnotisiert schlug ich die Bettdecke zurück und legte mich auf das weiße Laken.
Weiß.
Alles weiß.
So unschuldig.
Dieser saubere, frisch gewaschene Geruch tat verdammt gut und umhüllte mich wie eine feine, reine Wolke. Am liebsten hätte ich mich in dem wohltuendem Duft vergraben, stattdessen zog ich die Decke bis zum Kinn hoch und starrte scheinbar teilnahmslos an die Decke.
Die Gedanken flogen durch meinen Kopf und wirbelten alles durcheinander. Es war mal wieder ein richtiger Gedankenorkan, der alle paar Tage in meinem Gehirn wütete. Normalerweise drehte sich dann aber alles um Mathe, Hausaufgaben, meine Eltern, meine Freundinnen und Noah.
Noah.
Voller Scham dachte ich an die Unterhaltung heute Morgen mit Margot zurück, in der sie mir von den Ereignissen gestern Nacht auf der Party berichtet hatte. Jap. Ich, Elinor Wagner, hatte mich so besoffen, dass ich mich an nichts hatte erinnern können.
Entsetzt schlug ich die Hände vors Gesicht. "Was?" Meine Stimme klingt durch die auf den Mund gepressten Finger recht undeutlich. Margot musste sich ein Grinsen verkneifen und versuchte, ein mitleidvolles Gesicht zu machen, woran sie jedoch kläglich scheiterte. "Sag das noch mal!", forderte ich meine beste Freundin fassungslos auf.
"Du hast dich Noah an den Hals geschmissen, als wolltest du dich von der sinkenden Titanic retten. Nach einem bunten Mix aus Bier, Wodka, Sekt und Klopfern hast du angefangen, ihn dauerhaft anzutanzen, während er mit Julia Kressow aus der Elften geflirtet hat. Als er dann schließlich mit ihr im Schlafzimmer von Arthurs Eltern verschwunden ist, hast du dich statt bei mir oder Nikki bei Leah Frahse ausgeheult. Zum Schluss musstest du dir dann noch vor der Haustür die Seele aus dem Leib kotzen."
Fuck. "Nein", erwiderte ich tonlos. "Doch, glaub mir", schmunzelte Margot. "Ach, und deine Gesangseinlage habe ich ja total vergessen!"
"Wie, Gesangseinlage?", stotterte ich. Ich ahnte Schlimmes und vor mein inneres Auge schiebt sich ein lückenhafter Erinnerungsfetzen: Ich stehe auf dem Esstisch in Arthurs Wohnzimmer und gröle aus vollem Hals 'Breed' von Nirvana. Aber nein, das konnte unmöglich stimmen. Ich und singen? Niemals! Die praktischen Stücke im Musikunterricht waren für mich die Hölle gewesen, nicht umsonst hatte ich Musik nach der zehnten Klasse für immer aus meinem Stundenplan verbannt. Singen war echt nicht meine Stärke, ich hörte mir aber gerne Musik an.
Reuevoll berichtete Margot: "Naja, so gegen 1:00 Uhr morgens warst du nicht davon abzubringen, lauthals ein atemberaubendes Kurt-Cobain-Cover hinzulegen. Nicht zu vergessen dein Luftgitarren-Solo, bei dem du fast vom Esstisch gefallen bist!" Stöhnend vergrub ich mein Gesicht in meinem Kissen. Das durfte doch nicht wahr sein!
"Jetzt weiß die ganze Schule, wie verrückt du wirklich bist, Elinor!", kicherte Margot ausgelasen. Etwas ernster fügte sie dann hinzu: "Ich wollte dich aufhalten. Echt. Aber du warst du betrunken, dass man kein vernünftiges Wort mit dir wechseln konnte. Aber hey, Kopf hoch! In ein paar Wochen kann dir das alles total egal sein, weil du die ganzen Idioten dann nie wieder sehen musst!"
"Na super", murmelte ich und strich eine braune Locke zurück hinter mein Ohr. "Peinlicher hätte es kaum kommen können, oder?" Margot biss sich auf die Lippe und wagte es nicht, mich anzusehen. Dann brachen wir beide in schallendes Gelächter aus.
"Okay, etwas witzig war es vielleicht schon!", gab ich anschließend atemlos zu. "Definitiv", sagre Margot. Wir lagen nebeneinander auf meinem flauschigem Teppich. "Als Kurt-Cobain-Double wärst du sicher klasse!" Ich konnte ihr Grinsen aus ihrer Stimme heraushören und versetzte ihr prompt einen Schlag mit dem Kissen ins Gesicht, was einen neuen Kicheranfall auslöste.
"Margot!", jammerte ich und versuchte ihr Lachen so gut es geht zu ignorieren. "Jetzt bin ich bei Noah endgültig unten durch! Oh Gott! Was denkt er jetzt wohl von mir?" "Nichts Gutes", kommentierte Margot. "Jetzt denk doch nicht so viel darüber nach, Ellie! Er hat mit Julia-Bitchie-McBitch-Kressow rumgemacht! Er kann dir komplett egal sein. Soll ich dir mal ganz ehrlich etwas sagen?"
Zögerlich nickte ich. "Du warst nicht verliebt in ihn. Du warst verknallt, und das über Jahre! Dabei hast du gar nicht gemerkt, wie bescheuert Noah eigentlich ist und wie hohl. Klar, er sieht nicht übel aus. Aber sein Verhalten spricht doch Bände, oder nicht? Titten und Arsch, das ist das Einzige, worauf er aus ist."
"Nicht übel?", japste ich empört. "Noah sieht aus wie ein Model! Ein Hollywoodschauspieler! Ein Boygroupsänger!" Margot schüttelte verächtlich den Kopf. "Übertreib doch nicht so, Elinor. Hast du mir überhaupt zugehört?", fragte sie genervt. "Verzeih mir meine gnadenlose Ehrlichkeit, aber es war eine Schwärmerei, sonst nichts. Das weißt du eigentlich auch, bloß wolltest du es durch deine doofe rosarote Brille nie wahr haben. Ihr passt gar nicht zusammen!"
Ich zog die Augenbrauen hoch. "Gegenteile ziehen sich an?", versuchte ich es spaßhaft, doch innerlich wusste ich, dass Margot Recht hatte. Und sie wusste das auch. Deshalb guckte sie ja jetzt auch wieder so überheblich.
"Ja", stimmte ich schließlich grinsend zu. Ich fühlte fast so etwas wie Erleichterung, dass ich nun von Noah 'befreit' war. Verliebt war ich wirklich nicht gewesen. "Auf wen stehst du denn, Margot?", wollte ich schelmisch zwinkernd wissen. Margot errötete sichtlich und antwortete nicht sofort.
Ich sollte schlafen. Wirklich. Es war spät und ich war gebrochen.
Zerbrochen.
Von der unkontrollierten Lust eines einzigen perversen Mannes war mein ganzes Leben grausam zerschlagen worden. Nun musste ich Acht geben, nicht in die Splitter zu treten und versuchen, die Scherben so gut es ging aufzufegen.
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...