(Bild: die neue Yoko xD...Michelle Ang passt besser als Kim Hee Sun, oder? ^^)
Bei meiner zweiten Therapiestunde lief ich nicht gegen die Tür.
Nein. Mit zitternden Knien ließ ich mich in den roten Samtsessel sinken und wartete ab, bis Grace ihre Unterlagen geordnet hatte. Durch das angekippte Fenster drang helles Vogelgezwitscher zu uns herein.
Grace begann damit, sich nach meiner Woche zu erkunden. Sie hatte wieder diesen wachsamen, intensiven Blick in ihren blauen Augen, der sich anfühlte, als würde ich geröngt werden.
Zögernd erzählte ich ihr von meinem neuen Hobby und bemerkte den zufriedenen Ausdruck auf ihrem Gesicht sofort.
"Das ist großartig Elinor! Ich freue mich, dass du meinen Rat befolgt hast. Was liest du denn?", wollte sie wissen und notierte sich etwas auf ihrem Block.
Ich knetete nervös meine Finger im Schoß und erlaubte mir ein schüchternes Lächeln. "Ich habe mit den Sherlock-Holmes-Büchern von Arthur Canon Doyle angefangen", antwortete ich.
Grace nickte. "Sehr schön, das ist doch eine gute Ablenkung, oder nicht?"
Stumm nickte ich. "Außerdem gehe ich jetzt bald arbeiten, in einer Bäckerei", ließ ich sie schweren Herzens und mit einem müden Grinsen wissen. Mama hatte die Idee genauso gut gefunden wie Valerie und sogleich ihrer Freundin Ingrid Bescheid gesagt, die die Geschäftsführerin einer von vielen Filialen war und mir ohne Probleme einen Aushilfsjob hatte besorgen können. Es handelte sich um eine ganze Handelskette von Bäckern, in dem von Ingrid würde ich morgen, am Dienstag, meinen ersten Arbeitstag haben. Ich hätte wohl kaum noch unmotivierter sein können.
Grace jedoch schien sich ehrlich zu freuen. "Das ist bereits ein Fortschritt, Elinor!", lobte sie mich und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
Ich konnte nur nicken.
"So", machte meine Psychologin dann und rückte sich ihre Brille zurecht. "Ich möchte, dass wir uns heute zuerst einmal deinem Körpergefühl widmen. Kannst du mir sagen, wo in deinem Körper du ein angenehmes Wohlbefinden verspürst?"
Konzentriert dachte ich nach und ging jede meiner Körperregionen durch.
Über meinen Genitalbereich musste ich erst gar nicht sprechen. Meine Brüste kamen ebenfalls nicht in Frage. Auf meinen Armen lastete noch immer der lebhafte Albtraum und die Erinnerung an die Saune, die meine Haut zum Dampfen gebracht hatte.
Doch in meinen gut trainierten Beinen spürte ich es. Dieses Wohlbefinden, von dem Grace da sprach. Als ich es ihr sagte, erschien ein Funkeln in ihren Augen.
"Das ist ein guter Anfang", teilte sie mir mit und ohne es zu wollen grinste ich beinahe stolz.
"Um die Traumatisierung zu überwinden, musst du eine differenzierte Körperwahrnehmung gewinnen und dich selbst liebevoll betrachten können", ergänzte sie. "Was findest du an dir schön, Elinor?"
Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich mich nie besonders attraktiv gefunden. Neben meinen herausragend hübschen Freundinnen - ganz besonders Victoria und Margot - und natürlich neben Valerie hatte ich mich nie selber für begehrenswert gehalten.
Was fand ich also an mir schön?
"Meine Augen", sagte ich plötzlich. "Ich mag meine grünen Augen gerne. Die hab ich von meinem Vater geerbt."
Nicken und notieren. Daran gewöhnte ich mich langsam.
"Du hast mir bei unserem letzten Treffen erzählt, dass du Albträume hast und unter einem Waschzwang leidest. Was hat sich noch für dich geändert?", wollte sie im Anschluss wissen.
Mir fielen die Flashbacks ein. Außer Valerie hatte niemand etwas davon mitbekommen.
Gerade als ich Grace davon berichten wollte, ertönte auf einmal laute Musik durch das Fenster. Verwundert und erschrocken zugleich ließ ich meinen Kopf herum fahren, doch durch die Glasscheibe sah ich lediglich Bäume und Büsche. Alles ganz gewöhnlich. Die Ursache für den Krach konnte ich nicht ausmachen, doch ich vermutete, dass es aus einem der oberen Stockwerke kommen musste.
Grace hatte die Augen geschlossen. Ihr Blick war genervt, als sie sie wieder öffnete.
Sie murmelte etwas wie "Gott, gib mir Geduld und Kraft!", die Ironie war nicht zu überhören. Mit einem entschuldigendem Lächeln erhob sie sich und stand nach wenigen Schritten an der Tür, die Hand schon an der Klinke.
"Einen Moment, ja?", sagte sie zu mir und verschwand ohne eine Antwort abzuwarten. Mit gerunzelter Stirn blieb ich sitzen und lehnte mich nachdenklich in meinen Sessel zurück. Es dauerte nur eine halbe Minute, bis die laute Musik verstummte. Kurz darauf war Grace wieder im Zimmer.
"Entschuldige bitte", bat sie und nahm Platz.
"Was war das?", fragte ich neugierig, ehe ich mich zügeln konnte.
"Unwichtig!", winkte sie rasch ab. "Wo waren wir gewesen?"
Ich beschloss, nicht weiter nachzufragen und half ihr bereitwillig auf die Sprünge: "Ich habe Flashbacks."
Nicken und notieren. Reine Routine.
"Das ist nicht unüblich. Die Flashbacks werden durch bestimmte Trigger ausgelöst. Schlüsselreize, die dich an die Tat erinnern und dir bestimmte Details wieder in Erinnerung rufen", fügte sie erklärend hinzu. "Wie oft hast du solche Flashbacks, Elinor?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Unterschiedlich", gab ich nach einem kurzen Moment des Überlegens zurück.
"Weißt du, welche Trigger die Rückblenden bei dir auslösen?", fragte Grace und zog interessiert die Augenbrauen hoch.
Verlegen biss ich mir auf die Lippen. "Bei Schweiß, natürlich. Bei Feuer. Und bei der Stimme von Kurt Cobain."
Nein, Elinor war nicht merkwürdig. Elinor war völlig normal! Sie hatte zwar furchtbare Angst vor der wunderbaren Stimme einer Legende, aber war sie verrückt? Quatsch, nein!
Aber hier durfte ich verrückt sein. Hier musste ich verrückt sein, damit Grace mir helfen konnte.
"Du meidest diese Aspekte sicherlich?", vermutete sie und auf mein Nicken hin gab sie mir auf, eine Liste zu schreiben mit allen Triggern, die ich in nächster Zeit entdecken würde.
Auf dem Rückweg von Graces Praxis fuhr ich mit dem Fahrrad bei Nikkis Wohnung vorbei. Sie lebte seit ihrem 18. Geburtstag alleine in einer winzigen Zweiraumwohnung. Anders als Valerie bekam sie nicht monatlich eine hohe Summe Geld überwiesen, sondern musste für ihr kleines Einkommen hart arbeiten, indem sie in einem Restaurant abends kellnerte.
Hoffnungsvoll klingelte ich. Wenn sie mich nicht sah, würde sie vielleicht aufmachen.
Vielleicht.
Vielleicht sollte ich meine Stimme verstellen und mich als Postbote ausgeben? Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Aber all meine mickrigen Ideen wurden zunichte gemacht, als mein Läuten unbeantwortet blieb. Vergeblich wartete ich vor der Tür auf eine Reaktion, irgendetwas - doch nichts.
Nichts geschah.
Kein Hund bellte, kein Nachbar war auf einem der Balkons, geschweige denn wurde mir die Tür geöffnet.
Ich war ein ungebetener Gast.
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...