Kapitel 16

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Valerie redete mit Mama. Sie redeten viel. Den ganzen Nachmittag.

Als ich mich schließlich vorsichtig nach unten in die Küche wagte, schrie Mama gerade wild gestikulierend auf Valerie ein. Ihre lauten, schrillen Worte ließen mich zusammenzucken. "Nein! Nein! Nein, ich will das nicht! Elinor muss bei mir bleiben, was sagst du da? Umziehen? Nein! Nein, auf keinen Fall!"

Nein.

Immer wieder dieses Wort.

Ich hatte es auch gesagt: Nein!  Alles in mir hatte 'NEIN' geschrien, als er mich vergewaltigt hatte - Das hatte ihn nicht daran gehindert. Er hatte es trotzdem getan und sich nicht von dem unmissverständlichem Wörtchen 'nein' abhalten lassen.

Manchmal geschahen Dinge, gegen die wir machtlos waren. Manchmal konnten wir Veränderungen nicht aufhalten, sie kamen in unser Leben und überrollten ohne uns höflich zu fragen.

Ich wusste das.

Mama nicht.

Doch da sie bereits unwahrscheinlich aufgebracht war, verzichtete ich darauf, sie auf diesen Umstand hinzuweisen. Stattdessen verschränkte ich meine Arme und lehnte mich gegen den Türrahmen.

"Mama, ich will aber zu Valerie ziehen", sagte ich leise und versuchte ein schwaches Lächeln, was jedoch kläglich scheiterte.

Das war zu viel für meine Mutter. "Nein!", widersprach sie entschlossen und knallte mit der flachen Hand auf den Küchentisch, sodass Valerie erschrocken die Schultern nach oben riss. "Nein, das könnt ihr gleich wieder vergessen! Zusammenziehen! Nach allem, was passiert ist! Ich bin noch immer deine Mutter, Elinor! Das erlaube ich nicht."

"Nun, vielleicht", gab ich wütend zurück und stemmte angriffslustig die Hände in die Hüfte, "habe ich dich ja auch gar nicht um deine Erlaubnis gebeten!" Das verschlug Mama glatt den Atem. Valerie wagte es kaum, den Blick vom Boden abzuwenden, während ich unsere Mutter herausfordernd anfunkelte.

"Ich bin volljährig, Mama! Du kannst mir nichts mehr verbieten, schon vergessen?", ergänzte ich in einem etwas ruhigerem Ton. Egal wie hart und ungerecht meine Worte auch klangen, es war die Wahrheit.

Stille breitete sich in unserer Küche aus. In der Küche, in der ich jahrelang jeden Morgen mein Müsli gegessen hatte. Die Küche, in der ich stets zum Mittagessen am Sonntag erscheinen musste.

Ich glaube, das war ein wichtiger Moment für meine Mutter und mich. Man konnte an ihrem angespannten Kiefer genau sehen, wie sie mit sich rang.

"Du kannst mich nicht davon abhalten, zu Valerie zu ziehen. Aber du kannst mich dabei unterstützen. Es liegt in deiner Hand, weißt du", probierte ich es zögernd auf die versöhnliche Art. Innerlich bebte ich vor Angst.

Klar, es war egal, was sie sagte. In diesem Augenblick war ich so mutig wie schon lange nicht mehr. Mama hatte nicht die Macht über meine Entscheidungen, für mich war der Umzug längst beschlossene Sache. Doch ich wollte sie nicht verlieren, nicht noch einmal. Nein. Ich wollte sie bei mir wissen.

Nein.

Da war es schon wieder dieses Wort. Dieses Wort der Angst. Es zeigte, dass man etwas nicht wahrhaben wollte. Mama wollte nicht sehen, dass ihr zweites kleines Vögelchen nun bereit war, das Nest zu verlessen. Ich weigerte mir einzugestehen, dass ich sie für mein Vorhaben als Unterstützung brauchte.

Nein. Nein. Nein.

Fast hätte ich die Hoffnung aufgegeben, als Mama ein abgehacktes Nicken zustande brachte. "Na gut", meinte sie barsch, doch ich hörte etwas Schwaches, Verletztliches aus ihrer Stimme heraus. Sie drehte sich zum Waschbecken um, damit wir ihr Gesicht nicht sehen konnten. "Wann soll es denn los gehen?", erkundigte sie sich. Alles in ihrem schwankendem Ton verriet mir ihr panisches Unbehagen.

"So bald wie möglich", antwortete Valerie sanft.

Nun konnte Mama ihre Tränen nicht länger zurück halten. "Was soll das denn bitte heißen?", weinte sie hysterisch. "Bin ich so eine schlechte Mutter, ja? Willst du das damit sagen?" Ihre wehleidigen Schluchzer durchdrangen das Schweigen, das uns drei umhüllte.

Uns drei.

Tochter, Mutter, Schwester. Auf ewig miteinander verbunden. Unzertrennlich. Zertrennlich.

Ich biss die Zähne zusammen. Immer musste sie alles auf sich beziehen. "Nein, Mama, das hat nichts mit dir zu tun. Du bist eine tolle Mutter."

Lügen, alles Lügen. Lügen über Lügen.

Man sollte keine Lügen erzählen. Das gehörte sich nicht.

Doch es gehörte sich auch nicht, seine Tochter zu vernachlässigen, nur um sich zwei Jahre später an sie zu klammern. Gott, das war so erbärmlich.

Mama zu beruhigen hatte noch nie zu meinen Stärken gezählt. Das war immer Valis Aufgabe gewesen, so wie auch heute. Ganz fürsorglich legte sie einen Arm um Mamas Schulter und strich ihr sanft über den Rücken.

Allein der Gedanke, jemanden so unbekümmert und ohne nachzudenken zu berühren wie die beiden gerade, verursachte mir Übelkeit. Es machte mich wahnsinnig zu sehen, wie selbstverständlich Valeries Haut auf Mamas Haut traf, wie nah sie einander waren.

Ich fühlte mich fehl am Platz.

So war das schon immer gewesen. Mama und Vali, sonst nichts. Für Ellie war da kein Platz. Weder damals, noch heute. Ich widerstand dem trotzigen und kindischen Drang, mich affektiert zu räuspern und wartete schweigend ab.

"Habt ihr schon einen genauen Termin?", wollte meine Mutter heiser wissen.

"Wir dachten an Freitag. Diesen Freitag", erwiderte Valerie vorsichtig.

Schluchzend ließ Mama ihren Kopf auf Valies Schulter sinken. Das Bild war so falsch. Mutter und Tochter waren vertauscht, hatten jeweils die Rolle des anderen eingenommen.

"Aber", fing Mama verkrampft an, "muss so ein Umzug nicht langfristig geplant werden? Das ist doch so viel zu hektisch, wie stellt ihr euch das denn vor? So etwas braucht Zeit." Die pure Hoffnungslosigkeit trieb sie zu solch dummen Fragen.

"Braucht es nicht!", widersprach ich heftig, was mir einen warnenden Blick von Valerie einbrachte. "Ich habe doch nicht viel, was ich mitnehmen könnte. Außerdem bin ich so viel näher bei meinen Freunden", fügte ich gefasster hinzu, obwohl meine Worte nicht wirklich der Wahrheit entsprachen.

Lügen. Alles Lügen. Mein ganzes Leben. Eine einzige Lüge.

Mama sah mich fragend an. "Schwaches Argument!", hätte meine ehemalige Deutschlehrerin wahrscheinlich bemängelt. Doch Deutsch war noch nie meine Stärke gewesen, Erörterungen und Gedichtinterpretationen langweilten mich.

Ich war immer eher ein Freund der Mathematik gewesen. Zahlen und logisches Denken leuchteten mir viel eher ein als lange Aufsätze.

"Außerdem hast du doch erwähnt, dass Elinors Psychologin ganz in der Nähe von mir wohnt, nicht wahr? Das ist doch super!", meinte Valerie mit einem gekünstelten Lächeln.

Für eine Sekunde erschien auf Mamas Gesicht ein Strahlen der Erleichterung, dann hatte sie ihre Emotionen wieder im Griff und sagte mit falschem Bedauern: "Einen Moment! Elinor kann nicht umziehen, bevor wir es nicht mit ihrer Psychologin abgesprochen haben! Wohlmöglich könnte das fatale Folgen haben, wir dürfen nicht vorschnell handeln. Elinors Gesundheit steht schließlich auf dem Spiel."

Ihr falsches Mitgefühl kotzte mich an. Valerie sah zögernd zwischen uns beiden hin und her.

"Nur zu deiner Information", fauchte ich, "Tamara hat mir sogar einen Umzug vorgeschlagen! Sie meinte, es könnte hilfreich sein."

Das brachte Mama endlich zum Schweigen.

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