Kapitel 9

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(Bild: Yoko)

Am Montagmorgen wachte ich in meinem eigenen Urin auf. Abgesehen davon, dass ich kaum eine Stunde Schlaf am Stück gehabt hatte, war ich in diesen wenigen Minuten auch noch von Alpträumen geplagt worden, die mir die Hoffnung auf eine ruhige Nacht genommen hatten.

Auf die Erkenntnis, dass ich mir eingepinkelt hatte, folgte sogleich der Ekel. Wie alt war ich denn bitte? Wie ein kleines Baby war ich wegen meiner lächerlichen Furcht zur Bettnässerin mutiert. Schamesröte schoss mir ins Gesicht und ich rappelte mich hoch. Die Wut staute sich in meinem Bauch und ich fing an, auf grobe Weise das Laken und die Bettwäsche abzuziehen. Ich presste alles zu einem riesigen Knäuel zusammen und drückte es fest an meine Brust, so eilte ich ins Bad und weichte den ganzen Schlamassel ein.

Ich wandte den Blick nicht von dem Stoff ab, der sich durch das plätschernde Wasser aus dem Hahn in der Badewanne langsam dunkel färbte.

Sehnlichst wünschte ich mir, ich könnte den Schmerz, den Scham und die Angst genauso von mir einweichen und auswaschen. Nachdenklich trocknete ich mir die Hände am Handtuch ab.

Früher war ich immer bei einem Alptraum zu Mama und Papa ins Bett gekrabbelt und hatte mich zwischen die beiden gelegt. Der Mundgeruch von ihnen hatte mich zwar etwas gestört, aber wenigstens war ich unter der warmen Bettdecke sicher vor Monstern und Einbrechern gewesen.

Kurz überlegte ich, wie meine Eltern wohl reagieren würden, wenn ich das gleiche jetzt mit meinen 18 Jahren tun würde. Laut und verbittert lachte ich bei dem Gedanken an ihre Gesichter auf. Dabei hätte ich ihre schützenden Körper heute Nacht viel dringender gebraucht als damals.

Übermüdet duschte ich mich einmal kalt ab, doch wacher wurde ich davon auch nicht. Stattdessen nickte ich fast wieder ein, nur um dann überrascht hochzuschrecken. Plötzlich fröstelte ich ganz schrecklich, alles fühlte sich grausam kalt an. Schnell seifte ich mich ein und stellte erschrocken fest, dass bereits vier Duschbäder aufgebraucht waren, dabei hatte mein Einkauf doch erst gestern Abend stattgefunden. Ich drehte den Hahn ab und stieg rasch aus der Dusche.

Bei dem Gedanken, dass Mama von meinem Waschzwang erfahren konnte, wurde mir noch kälter und ich wickelte das Handtuch fester um mich.

Unten in der Küche stieß ich auf Papa, der gerade unbeholfen an der Kaffemaschine herum fummelte. "Ich hätte auch gerne einen", begrüßte ich ihn schweren Herzens. Zerstreut drehte er sich zu mir um: "Ah, guten Morgen, mein Engel!" Ich war dankbar, dass er taktvollerweise darauf verzichtete, mir einen Kuss zu geben oder mich zu umarmen. Vielleicht war er aber auch einfach zu beschäftigt, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen.

Mit verschränkten Armen sah ich ihm dabei zu, wie er mühsam probierte, die Maschine in Gang zu bringen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hielt er zwei dampfende Tassen in der Hand. "Hier!", strahlend reichte er mir einen davon und so tranken wir schweigend.

Ohne es zu bemerken hatte ich ein Lächeln auf den Lippen. Obwohl Papa viel mit seinem Beruf zu tun hatte, brachte er mich häufig zum Lachen. Zumindest war das früher so gewesen, jetzt konnte ich mir kaum vorstellen, je wieder unbeschwert und ausgelassen über irgendetwas lachen zu können.

Mit Papa war alles viel unkomplizierter als mit Mama, er war weniger streng und eher lustig. Allerdings hatte er nun einen ziemlich ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt: "Ich habe gehört, du und Mama, ihr habt euch wieder gestritten."

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich konnte mir recht gut vorstellen, wie das Gespräch abgelaufen war: Sobald Papa gestern Abend das Haus betreten hatte, musste Mama ihm alles brühwarm erzählt haben und mich dabei natürlich als launischen, unberechenbaren Psycho dargestellt haben. Und Papa hatte alles geglaubt. So war es immer! Mama sagte oft, dass Papa zu weich sei und zu schnell nachgab, und ausnahmsweise musste ich ihr Recht geben. Eigentlich schätzte ich an ihm besonders die Güte und Barmherzigkeit, die ich an Mama vermisste. Obwohl, gegenüber Valerie könnte sie liebevoller kaum sein, nur gegenüber mir ließ sie es daran mangeln. Papa war eine gute Seele, doch bei so etwas reagierte er viel zu leichtgläubig und ließ sich vom Mama und jedem anderen auch einlullen.

Ich kannte diesen Blick, mit dem er mich gerade über seine Brille hinweg musterte. Es war exakt der Blick, mit dem er auch seine Patienten in der Psychatrie bedachte.

Zorn stieg in mir hoch und ich ballte meine Hand zu einer Faust. "Ich bin nicht krank, okay?", knurrte ich mit Nachdruck. "Du musst mich nicht so anstarren!"

Doch offenbar ließ sich dieser Blick nicht abschalten, denn auch nachdem er peinlich berührt geblinzelt und sich mit seinem rechten Zeigefinger die Brille hochgeschoben hatte, war er noch da, dieser Blick, in seinen grünen Augen. Von ihm hatten Valerie und ich auch unsere eher ungewöhnliche Augenfarbe geerbt, genau wie Mama ihr blondes Haar an meine Schwester und er sein braunes Haar, das nun schon ziemlich grau war, an mich weitergegeben hatte.

"Verzeih mir", murmelte er. Rasch winkte ich ab. Einen Moment wusste keiner von uns, was zu sagen oder zu tun war. Beide starrten wir unseren Kaffe an, an dem ich mir meine kalten Hände wärmte.

Wie hatte ich das früher nur angestellt, einfach so ungezwungen mit den Leuten aus meinem Umfeld zu sprechen? Ohne Angst verletzt oder zurückgewiesen zu werden?

Früher. Früher schien so lange her zu sein, dabei waren seitdem erst ein paar Tage vergangen.

Früher hatten Papa und ich über alles mögliche gesprochen. Wir hatten wild und gestenreich über die aktuelle Politik diskutiert, uns verächtlich über die schlechte Musik in den Charts aufgeregt, unsere Belustigung bezüglich der vielen sinnlosen Apps auf Valeries Smartphone zum Ausdruck gebracht und gemeinsam The Big Bang Theory  geschaut. Ich erinnerte mich noch, wie Papa sich eines Abends in der Werbepause mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen erkundigt hatte, auf wen ich den stand. Empört hatte ich erwidert, dass ihn das rein gar nichts anginge und dabei heimlich an Noah gedacht. Ich hatte mich gefragt, ob Noah mit seinen Eltern auch über mich oder über irgendein anderes Mädchen sprach, doch jetzt war dieser Gedanke einfach nur lächerlich. Ich wusste noch genau, wie Papa irritiert lächelnd hatte wissen wollen: "Wieso? Wen denn sonst, wenn nicht mich? Elinor, ich bin dein Vater!" Daraufhin hatte ich einen Witz gerissen, den nur Star Wars Fans verstehen würden (Ernsthaft: Anspielungen auf Darth Vader und Luke wurden nie langweilig!) und das Thema war für mich beendet gewesen.

Aber je länger ich darüber nachgedacht hatte, desto sicherer war ich mir, dass ich mit meinem Papa über alles reden konnte. Er war doch schließlich mein Papa!

Und nun schwiegen wir uns an, weil jedes Wort zu viel oder zu wenig Bedeutung gehabt hätte. Kein Gespräch wäre angemessen unserer derzeitigen Situation gewesen. Wie musste es für einen liebenden Vater sein zu wissen, dass seine Tochter ihr erstes Mal ohne beidseitiges Einverständnis mit einem Fremden gehabt hatte? Wie fühlte sich für ihn die Tatsache an, dass ich, seine Tochter, vergewaltigt worden war?

Unwillkürlich stellte sich mir die Frage, ob Papa auch glaubte, dass das alles meine Schuld war.

Irgendwann machte er eine Bemerkung über die fettarme Milch aus dem Biomarkt. Ich äußerte halbherzig meine Gedanken dazu. Er riss einen schlechten Witz. Ich gab vor, mich darüber zu amüsieren.

Ich war mehr dankbar, dass ich das Treffen mit meinen Freunden als Anlass zum Verschwinden nehmen konnte. Um ehrlich zu sein konnte ich gar nicht schnell genug aus der Küche verschwinden . . .

Nach mehren, ausführlichen Duschen schlüpfte ich trotz Sommeranfangs in einen dicken, weiten Pulli. Ich wollte nicht, dass die Leute mich als Schlampe bezeichneten. Ich hatte verdammt viel Angst davor, was sie überhaupt sagen könnten. Aber das waren meine langjährigen Freundinnen und nicht irgendwelche Leute!

An diesen Gedanken klammerte ich mich, als ich um kurz nach 11 Uhr in Margots grünen Smart stieg.

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