Kapitel 1

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Schweigend saß ich auf unserer Couch. Unsere braune, flauschige Decke aus dem Wohnzimmer hatte ich fest um meinen Körper geschlungen. Normalerweise diente sie als Unterlage, wenn ich gelangweilt abends vor unserem Fernseher hockte. Jetzt wärmte sie mich, wärmte mich von dem Schrecken.

"Wärme hilft gegen den Schock", hatte die Sanitäterin noch mit ernster Stimme zu Mama gesagt.

Mama.

Sie hatte gewimmert, geweint, geschrien. So wie ich zuvor. Gerne hätte ich ihr gesagt, dass das nichts brachte. Ich hatte es selber schon probiert, kein Geschrei der Welt konnte das Elend aufhalten, geschweige denn es rückgängig machen.

Doch kein Ton kam über meine Lippen. Seit der alte Möller mich im Wald gefunden hatte, war kein Wort gesprochen worden. Zumindest nicht von mir. Alle anderen redeten viel. Reden half angeblich. Aber wogegen? Ich konnte ganz sicher nicht aussprechen, was mir widerfahren war.

Wahrscheinlich hatte ich wegen diesem Ratschlag auch eine dampfend heiße Tasse Tee in den Händen. Himbeer-Vanille. Fünf Minuten ziehen lassen, stand auf dem Beutel.

Mama hatte auch einen Tee bekommen. Zur Beruhigung. Wieso glaubten alle, dass Tee half? Was konnte etwas kochendes Wasser mit süßlichem Geschmack gegen eine Vergewaltigung ausrichten?

Nichts.

Und das wusste auch jeder. Zum wiederholten Mal stellte ich mir die Frage, ob sie überhaupt wussten, was passiert war. Konnte man sich ja eigentlich denken.

Ich jedenfalls wusste nicht mehr, wie die Tasse Tee in meine Hände gekommen war. Eigentlich wusste ich gar nichts mehr, oder nur noch Bruchstücke, kleine Einzelteile eines großen Puzzles. Bewusst war mir, dass ich vergewaltigt worden war. Aber jegliche Erinnerung and die Tat hatte ich ausgeblendet. erfolgreich verdrängt. Wahrscheinlich war es besser so.

Mama redete noch immer mit den Sanitätern aus dem Krankenwagen. Mit dem Gefühl, dass sich das Haus immer mehr füllte, beugte ich mich leicht nach rechts. Augenblicklich durchschoss ein stechender Schmerz in meine Hüfte und ich zuckte zurück. Nun waren auch zwei Polizisten dazugestoßen, die offenbar erste Befragungen vornahmen. Ich konnte ihre ernsten Stimmen aus der Küche hören, die Umrisse der Personen waren durch die Tür nur verschwommen. Eine tiefere Stimme hob sich hervor, wurde eindringlicher. Mama schrie auf, die Sanitäterin redete nachdrücklich und mit schrillem Unterton auf den Polizisten ein.

Mit geschlossen Augen lehnte ich mich zurück.

Ich begriff einfach nicht, was geschehen war. Ich war vergewaltigt worden. Das waren mehrere aneinander gereihte Worte, die einen grammatisch korrekten Satz ergaben. Aber ich realisierte es nicht, es erschien mir komplett irreal und völlig unmöglich.

Gestern um diese Uhrzeit hatte ich mich gerade im Bad fertig gemacht. Die anderen waren schon im Glam  um die Ecke gewesen. "Etwas vorglühen", hatte Victoria kokett zwinkernd gemeint. Yoko hatte mit verschränkten Armen verdruckst gekichert, Margot nur leicht lächelnd die Augen verdreht und Nikki wie immer keine Miene verzogen.

Seit dem Kindergarten war Margot meine beste Freundin. Margot, das offene Mädchen mit dem honigblondem gewelltem Haar und den himmelblauen Augen. Margot, die stets ein offenes Ohr für jeden hatte, in allem das Gute sah und deren Traum es war, die Welt zu retten. Ihre Noten waren überdurchschnittlich, ihr gehasster Spitzname Moralapostel-Margot. Sie hatte wahrlich ein gutes Herz, war jedoch nah am Wasser gebaut und reagierte wütend und aufbrausend auf Ungerechtigkeit. Wie würde sie auf das reagieren, was mir geschehen war? Margot konnte ich vertrauen, das wusste ich, jedoch sträubte sich alles in mir dagegen, ihr von der Vergewaltigung zu erzählen. Ihr geschockter Gesichtsausdruck, ihre Ungläubigkeit, ihr offen gezeigtes Mitleid, ihre besorgten Blicke: Das würde ich nicht ertragen.

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