Ich hatte doch gleich gewusst, dass es eine bescheuerte Idee war, mit dem Rad zu fahren.
Es regnete in Strömen, dicke Tropfen fielen auf meine dunkelblaue Regenjacke. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck trat ich kräftiger in die Pedale und versuchte, einen klaren Blick zu behalten.
Trotz des schlechten Wetters waren auch zu dieser frühen Tageszeit viele Radfahrer in Berlin unterwegs. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit raste ein Mann in professioneller Sportkleidung und mit Helm an mir vorbei. "Pass doch auf, Mädchen!", rief er verärgert und machte eine wüste Handbewegung.
Meine halbherzig gemurmelte Entschuldigung hörte er schon gar nicht mehr.
Erschöpft schob ich mein Rad in den Fahrradständer vor dem Bäcker und wischte mir mit dem Handrücken das Regenwasser von der Stirn. Ich bemühte mich, nicht allzu lustlos auszusehen.
Der Bäcker würde in wenigen Minuten den hungrigen Berlinern seine Pforten öffnen, deshalb war ich schon etwas früher da.
Ich nutzte den etwas abgelegenen Mitarbeitereingang und klingelte wie verabredet. Mir war unbehaglich zumute und ich verspürte eine leichte Übelkeit, als ich vor der weißen Tür mit den vielen Kratzern und Schrammen wartete.
Eine junge Frau mit platinblondem Haar und einem Piercing in der Nase öffnete mir. Sie schenkte mir ein freches Grinsen und kaute weiter ihren Kaugummi. "Hey, man", begrüßte sie mich schmatzend. Sie war ziemlich blass und hatte einen Bob, ansonsten war sie unheimlich dünn und relativ klein. Ihre blauen Augen waren mit grünen und goldenen Sprenkeln übersehen, ein belustigtes Funkeln lag darin.
"Du bist Elinor Wajner, net wahr? Man, Injrid hat mir schon erzählt, dat du hier als Aushilfe arbeiten willst. Icke heiße Rebecca - aber man - du kannst mich jerne Becca nennen. Dat tun hier alle!", meinte sie und zwinkerte.
Mit einem unsicheren Lächeln folgte ich ihr in den Lagerraum.
"Hier kannste deine Tasche abstellen", sagte Becca und deutete in eine Ecke. "Okay", murmelte ich und bemühte mich, nicht allzu verschüchtert auszusehen.
"Injrid kommt heute erst später", informierte sie mich. Im Anschluss zeigte sie mir, wie die Kasse funktionierte, wo ich welches Gebäck fand, was ich beim Bedienen der Kaffemaschine beachten musste, wie ich die Bestände prüfte - und natürlich wo ich selber Pause machen konnte. "Wenn du etwas essen oder trinken willst", sagte sie mit wichtigtuerischer Miene und machte eine besonders große Kaugummiblase, "dann musst du dat da vor der Besenkammer machen, in der Ecke da drüben."
Die Kaugummiblase zerplatzte.
Verwundert starrte ich sie an. War das ihr Ernst?
"Da filmt die Kamera dich net", fügte sie mit einem Schulterzucken hinzu und deutete unauffällig auf das kleine schwarze Teil an der Decke. "Sonst sieht der Chef dich doch! Ist echt okay mit der Ecke - dat machen alle hier so!"
Besser, ich fragte gar nicht nach.
Während die ersten Kunden hereinkamen, dachte ich an den Morgen zurück, als Valerie und ich in einem Bäcker gefrühstückt hatten. Unsere Diskussion über einen möglichen Umzug von mir zu ihr war mir lebhaft in Erinnerung geblieben. Lächelnd erfreute ich mich an dem Gedanken, dass das nun die reale Wirklichkeit geworden war.
Das Lächeln verging mir jedoch recht schnell, als sich der Laden immer mehr füllte und sich eine Schlange mit hungrigen, ungeduldigen Wartenden gebildet hatte. Hektisch vertauschte ich Cappuccino mit Latte Macchiato, vergaß die Bestellung eines Kunden, ließ ein ganzes Tablett mit Brötchen fallen, gab falsch Wechselgeld raus und wurde Ingrid angefaucht, weil ich den falschen Lappen für den Boden benutzt hatte.
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...