Unruhig warf ich mich im Schlaf hin und her. Ich träumte, ich wäre wieder dort im Wald. Mit ihm. Diesem Fremden. In meinem Traum hatte der Mann kein Gesicht, es könnte jeder sein. Und genau das bereitete mir eine unheimliche Angst: Jeder Mann wäre im Prinzip zu so einer Tat fähig.
Erfüllt von Ekel und Scham strampelte ich mir mit hektischen Bewegungen meine Decke von den schwitzigen Beinen. Ich konnte beinahe fühlen, wie seine warme Hand über meinen Körper gleitete und mich überall berührte.
Schreiend wachte ich auf.
Um mich herum war es dunkel, tiefste, schwärzeste Nacht. Ich fing an zu zittern, meine Schultern bebten und ich hörte mein eigenes, hysterisches Schluchzen. Mein tränennasses Gesicht wurde von meinen Händen verborgen, in die ich meinen ganzen Kummer und meine Angst hineinweinte.
Es fühlte sich wahrlich an, als hätte ich Stunden damit zugebracht, hemmungslos schluchzend auf meinem Bett zu sitzen. Das weiße Laken war feucht von meinen Tränen, die nun langsam versiegten. Meine verzweifelten Laute verwandelten sich in ein Lachen. Es klang viel zu laut und schrill in der Stille, doch in meinem Wahn konnte ich nicht aufhören. Die Angst packte mich und ich drückte mir das Kissen auf den Mund, sodass es sich noch viel animalischer anhörte als zuvor.
Irgendwann stoppte ich abrupt.
Schniefend richtete ich mich auf und band mir das Haar zu einem lockeren Dutt zusammen.
Plötzlich war da wieder dieses Gefühl. Es kroch von meinem Herzen in meinen ganzen Körper und ging mir tief unter die Haut. Ein Kribbeln durchfuhr mich.
Da war Dreck. Überall. Auf meiner Haut, unter meiner Haut, in meiner Haut.
Ohne darüber nachzudenken, wie ich im Bett so dreckig geworden war, rannte ich ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. Ich verbrauchte den gesamten Vorrat an fester Seife und musste sogar zu der Handseife vom Waschbecken greifen, um wieder sauber zu sein.
Ich verbrachte über zwanzig Minuten in der Dusche, bevor ich beruhigt in mein Bett zurückkehren konnte, doch auch wenn das schmutzige Gefühl vorerst verschwunden war, blieb die Panik tief in mir sitzen. Sie würde so schnell nicht verschwinden, das wusste ich. Ich wusste auch, dass ans Einschlafen wohl kaum zu denken war.
Noch immer leicht keuchend legte ich mich auf das Bett, die Hände auf der Brust schützend zusammengefaltet. Ich schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Ich scheiterte kläglich.
Meine Gedanken kehrten immer wieder zurück in den Wald, den traumhaft schönen Wald, in dem so etwas erschreckend grausames geschehen war. Das merkwürdige an der Sache war ja, dass ich mich noch immer nicht erinnern konnte. Der ziehende Schmerz sorgte schon dafür, dass ich ständig daran denken musste, aber die Details der Tat wollten mir nicht einfallen. Es war besser so. Viel besser.
Schlaflos wanderte ich im Raum umher und sehnte mich nach dem hellen Morgen. An Mama und Papa wollte ich nicht denken, ebenso wenig an Margot oder Nikki oder die bevorstehende Therapie. Ich wollte einfach nur nach Hause, in mein vertrautes Umfeld.
Kurz dachte ich an Tamaras Ratschlag umzuziehen. Ich musste schwer schlucken. Ein Umzug war das Letzte, worauf ich jetzt Lust hatte.
Komisch.
Vor ein paar Tagen hatte ich es kaum erwarten können, im Herbst endlich mein Elternhaus zu verlassen. Mein ganzes Leben hatte ich in Berlin verbracht, genauer gesagt in Pankow, wo es wie in einem Vorort zuging und es viel Grünfläche gab. Genau das Richtige für jemanden wie mich. Jeden Morgen war ich in die Großstadt gefahren worden, um dort zur Schule zu gehen. Papa hatte mich mitgenommen, da seine Psychatrie ebenfalls mitten in Berlin lag. Ich liebte Berlin, genau wie ich unseren Garten und unseren Wald und die etwas ländliche Ruhe genossen hatte.
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...